1. Dark Drama – Teil 1: Einführung und Hauptfigur

    06.01.2014 ///

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    Was ist Dark Drama? Welche äußeren und welche erzählerischen Elemente bestimmen das Genre? Wer ist die Hauptfigur im Dark Drama? In welchen Schritten hat sich das Genre filmhistorisch entwickelt, welche tieferen gesellschaftlichen und psychologischen Mechanismen stecken hinter Dark Drama? Und welche Impulse kann das Verständnis von Dark Drama für den deutschen Genrefilm geben? In der fünfteiligen Reihe Höllentrips aus der Postmoderne gibt Mark Wachholz erstmals einen detailreichen Überblick über die dunklen Labyrinthe des Genres. Neben einem kurzen Gesamtüberblick geht dieser erste Teil zunächst näher auf die Hauptfigur im Dark Drama ein.
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    Teil 1: Was ist Dark Drama – Einführung und Hauptfigur
    Teil 2: Stilmittel und Spezialformen von Dark Drama
    Teil 3: Dark Drama Filmgeschichte: 20er bis 50er
    Teil 4: Dark Drama Filmgeschichte: 60er bis heute
    Teil 5: Deep Theory und Entwicklungspotentiale von Dark Drama
     

    Dark Drama auf einen Blick

    Mit dem Genrebegriff Dark Drama lassen sich für eine Vielzahl von Filmen, die bislang nur schwer und missverständlich klassischen Genres zugeordnet werden konnten, gemeinsame Themen, Narrative und beschreibende Merkmale finden. Oft handelt es sich dabei um Filme, die als sperrig und zum Teil künstlerisch-experimentell gelten, gleichzeitig aber auch immer wieder stark in der Öffentlichkeit rezipiert und diskutiert, manchmal sogar skandalisiert werden. Einzelne Dark-Drama-Filme erzielen Erfolge im Box-Office, sind stark referenzierte »Kultfilme« oder werden mit wichtigen Filmpreisen ausgezeichnet.

    Zeitgenössische exemplarische Dark-Drama-Filme sind Fight Club (1999), Requiem for a Dream (2000), Donnie Darko (2001), Mulholland Dr. (2001), Irréversible (2002), Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004), Sympathy for Lady Vengeance (2005), Pans Labyrinth (2006), Vinyan (2008), Enter the Void (2009), Valhalla Rising (2009), Black Swan (2010), Drive (2011) und Upstream Color (2013). Wegweisende Regisseure des Genres sind u.a. David Lynch, Darren Aronofsky, Gaspar Noé, Nicolas Winding Refn, Park Chan-wook und Shane Carruth.

    Zentraler Narrativ im Dark Drama ist die nach innen gerichtete Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Fremden und Abgründigen der eigenen Psyche, die ein dunkles, erschreckendes und chaotisches Eigenleben zu führen scheint. Die eigene Identität befindet sich dabei in starker Zerrüttung und Zersetzung bis hin zur drohenden vollständigen Auflösung. Perspektivträger (Hauptfiguren) dieser Geschichten sind meist Alltagspersonen, deren größter Antagonist sie selber sind. Dark Drama erzählt von einer Reise in den dunkelsten Ort der eigenen Seele.

    Wichtige Stilmittel im Dark Drama sind zum einen illusionistische Motiv-Entlehnungen aus Genres wie Horror, Thriller, Mystery oder Sciene Fiction, zum anderen eine fragmentierte, oft komplex oder verwirrend aufgebaute Erzählstruktur, häufig zusätzlich verfremdet durch einen unzuverlässigen Erzähler oder generell surrealistische Einflüsse. Die Narration erscheint oft hyperkonsequent und ›krass‹ und prägt stark den nicht selten kompromisslosen Charakter dieser Filme.

    Dark Drama reflektiert besonders stark Identitätskrisen in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche. Direkte Verwandtschaft besteht zu den mindfuck-Filmen der 90er, dem in den 60ern beginnenden modernen Psychothriller sowie dem Film Noir (und generell dem durch den Einfluss Freudscher Psychoanalyse geprägten Hollywood-Kino) der 40er Jahre. In seiner heutigen Form ist Dark Drama ein Genre der Postmoderne, das gleichzeitig Ausblicke auf die Ära danach zu geben versucht.

    Gegenstand der vorliegenden Analyse ist die Gestalt des Genres im Medium Film. Eine Übertragung auf Medien wie Romane oder Computerspiele bedarf vermutlich Anpassungen.
     

    Wenn Wahnsinn uns erfasst

    In Darren Aronofskys Ballettdrama Black Swan (2010) wird die Ballerina Nina zunehmend verrückt, als sie versucht, für ihre Hauptrolle im Schwanensee den ›Schwarzen Schwan‹ in sich wachzurufen (und sich von ihrer überdominanten Mutter zu lösen). Gleiches passiert in Perfect Blue (1997) dem Ex-Pop-Idol Mima, die versucht, im Filmbusiness Fuß zu fassen. Aronofsky war so beeindruckt von Satoshi Kons Anime, dass er die Remake-Rechte an der Badewannen-Szene erwarb, um sie eins zu eins in seinem Drogendrama Requiem for a Dream (2000) nachzustellen. Darin gerät der Heroin-Abhängige Harry in einen ausweglosen Strudel seiner eigenen Sucht. Auch die Welt für das Liebespaar Clementine und Joel zerfällt immer mehr in Raum und Zeit in Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004) – denn es sind ihre Erinnerungen, die ausgelöscht sind. So auch in Upstream Color (2013) von Shane Carruth, in denen sich nicht nur die persönlichen Erinnerungen zweier Menschen immer mehr überschneiden und vertauschen, sondern die Narration des Films selbst in immer mehr Fragmente zerfällt. Gleiches ist schon zwei Frauen in Ingmar Bergmans Persona (1966) passiert, der sich als Film am Ende sogar selbst auflöst.

    Alle diese Filme erzählen von psychischen Störungen, seelischen Zerrüttungen und heftigen Identitätskrisen ihrer Protagonisten. Es sind harte, komplexe und nicht selten unerbittliche Seelentrips, in deren Zentrum das psychisch Schritt für Schritt zerbrechende Individuum steht. Das Chaos der menschlichen Existenz fordert hier endgültig seinen Tribut, die persönliche Identität erodiert, löst sich auf, droht mitunter komplett zu verschwinden.

    Willkommen in der Welt des Dark Drama.

    Genese des Genrebegriffs

    »Dark Drama« ist abgeleitet vom englischen »dark drama« (»dunkles, düsteres Drama«), das in der Regel nicht als Genrebezeichnung verwendet wird, dennoch nicht selten dann fällt, wenn Drama-Filme oder Genremixe mit starkem Drama-Fokus beschrieben werden. Beispielsweise wird Lee Daniels ungemütliches Psychothriller-Drama The Paperboy (2012) zusammengefasst als »a dark drama film that follows a newspaper writer tasked with exonerating a South Florida man accused on killing a sheriff«. Über das südkoreanische Rachedrama Bedevilled (2010) von Jang Chul-soo schreibt ein Rezensent: »Worth a look for slow burning dark drama fans then«.

    Als eigenständiger Genrebegriff taucht Dark Drama beim 2006 gegründeten Terror Film Festival in Philadelphia auf, das sich den Genres »horror, fantasy, sci-fi, thriller, dark drama« verschrieben hat, wobei unter Dark Drama an anderer Stelle »Psycho(drama)« verstanden wird. Eine brauchbare Definition wird weder für »Psychodrama« noch für »Dark Drama« geliefert, es scheint zwischen beiden kein Unterschied gemacht zu werden (auch wenn er signifikant ist, siehe Teil 2).

    Dabei erweist sich der Begriff »Dark Drama« als stark genug, ihm intuitiv einen Korpus an Filmen zuzuordnen und diese einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, um grundlegende Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.
     
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    Die Hauptfigur im Dark Drama

    Geschichten reflektieren Konflikte menschlicher Identität und finden Metaphern für innere Gedanken- und Gefühlsprozesse. Genres vereinen in sich sowohl bestimmte Konfliktarten als auch das dazugehörige Motiv- und Metapherninventar.

    Fantasy beispielsweise erweckt kindliche Wunschphantasien zum Leben, in denen erlittene Traumata und narzisstische Kränkungen reinszeniert und in einer Selbstidealisierung als unverletzbarer Übermensch (der klassische Fantasyheld, aber auch moderne Superhelden) erneut bekämpft und diesmal besiegt werden. Hier geht es um Individuation und (Re-)Konstitution des persönlichen Selbst gegenüber der Gemeinschaft.

    Science Fiction stellt dagegen – im Angesicht der menschlichen Hybris als (eigener) Schöpfer (künstlicher) Wesen oder grenzbrechender Technologien – diese Einzigartigkeit unserer Identität wiederum in Frage. Auch verhandelt sie den konfliktträchtigen Einfluss einer Gesellschaft auf das einzelne Individuum, das sich in die Gemeinschaft einzugliedern hat (statt wie in der Fantasy aus ihr herauszutreten), oft erzählt am Beispiel einer fiktiven gesellschaftlichen Dystopie.

    Beim Horror werden innere Urängste, tiefliegende Angstzustände und seelische Traumata in Form von übernatürlichen und entmenschlichten Monstern objektifiziert (eine Verkörperung im Wortsinne), um sie physisch konfrontieren und – meist besonders gewalttätig – auch physisch zerstören zu können, bevor sie selbst einen körperlich vernichten.

    Auch im klassischen Kriminalfilm und Thriller werden Ausnahmesituationen menschlicher Psyche veräußert – in Form schwerer Verbrechen wie Mord oder Entführung, verübt durch oft psychisch gestörte Täter. Diese antagonistischen Chaoselemente werden durch eine gesellschaftliche Autoritäts- und Ordnungsperson in Gestalt eines Polizisten, Kriminalbeamten, Juristen oder privaten Meisterermittlers bekämpft. Am Ende ist klassischerweise durch die Aufklärung des Verbrechens die (psychische und somit gesellschaftliche) Ordnung wieder hergestellt.

    Du bist dein eigener Feind

    Dark Drama erzählt ebenfalls vom Kampf gegen unkontrollierbares Chaos, das in die persönliche Lebenswelt eindringt. Diese Bedrohung kommt jedoch nicht mehr von außen, sondern entfaltet sich im Inneren, in der eigenen instabilen Psyche. Es gibt keinen Täter mehr, in dessen erkrankte und gleichzeitig externalisierte Psyche der Zuschauer – distanzierten – Einblick nimmt, und auch kein Verbrechen. Zumindest spielen diese Elemente im Dark Drama nur noch eine sehr untergeordnete Rolle.

    Unglück und Not der Figuren, psychisches Chaos und daraus resultierende Konflikte sind im Dark Drama internalisiert. In Black Swan sagt Tanzlehrer Thomas Leroy zu Nina: »The only person standing in your way is you.« Die Fragmentierung der Psyche ist dabei nicht mehr das drohende Schicksal, sondern bereits status quo: Der Protagonist ist sein eigener Antagonist. Die junge Mima in Perfect Blue muss ihre Film-Figur beim Dreh sagen lassen: »I’m scared that my other self will do something that I don’t know about.« In Andrzej Zulwaskis Dark-Drama-Klassiker Possession (1981) erkennt die zunehmend in hysterisch-blutigem Beziehungskrieg versinkende Anna: »I’m afraid of myself. I’m the mother of my own evil.«

    Psychische Störungen: Von Killern zu Alltagsmenschen

    Dass die Hauptfigur selbst Ursprung des Chaos ist, gegen das sie kämpfen muss, ist vorläufiger Endpunkt einer über die Jahrzehnte zunehmenden Annäherung von Filmen an Identitätskrisen und psychische Störungen. Die Wiederherstellung der Ordnung durch einen guten, fähigen Ermittler wurde spätestens Anfang der 60er Jahre mit den beiden wegweisenden Thrillern Peeping Tom (1960) von Michael Powell und Psycho (1960) von Alfred Hitchcock aufgebrochen. Beide Filme zwangen den Zuschauer plötzlich in die Perspektive des psychisch kranken Täters selbst. Damit begründeten sie den modernen Serienkiller– bzw. Psychothriller, der sich zunehmend nicht allein auf das Verbrechen und seine Aufklärung konzentrierte, sondern das Eintauchen (und im besten Fall Verstehenwollen) der kranken Psyche des Täters zum Fokus der Geschichte machte (und dadurch beim Zuschauer stärkere Verstörung und somit ›Thrill‹ auslöste).

    Mehr und mehr wurde der psychisch gestörte Killer selber Protagonist dieser Filme, die Ermittlerfigur trat immer mehr in den Hintergrund – wie in William Lustigs berüchtigtem Reißer Maniac (1980), John McNaughtons verstörendem Henry: Portrait of a Serial Killer (1986) oder Patty Jenkins’ Killerdrama Monster (2002). Als vorläufiger Endpunkt dieser Entwicklung kann Franck Khalfouns Remake Maniac (2012) angesehen werden, der den Zuschauer auch visuell vollständig in die Ich-Perspektive des triebgesteuerten Serienkillers versetzt. Einige dieser Filme können bereits als Dark Drama identifiziert werden oder beinhalten Teil-Elemente des Genres, da sie wenig auf die tatsächlichen Verbrechen und ihre Aufklärung, sondern vielmehr auf die dramatische, ausweglose und oft triste Lebenssituation der Täter fokussieren.

    In den Folgejahren konzentrierten sich immer mehr Thriller auf einen psychisch angeschlagenen oder gar zerrütteten Ermittler als Identifikationsfigur. Die Guten wurden zu Kranken. Verbrechen und (psychisch kranker) Killer waren immer noch plotrelevant, standen jedoch immer weniger im Fokus oder blieben sogar komplett phantomhaft. Jonathan Demmes The Silence of the Lambs (1991) war für diese Entwicklung wegweisend. In seinem Fahrwasser folgten Filme wie Jon Amiels Copycat (1995) mit einer bereits zu Filmbeginn vollkommen traumatisierten Ermittlerin, Christopher Nolans Insomnia (2002) oder David Finchers Zodiac (2007), dessen Ermittler – ein Zeichner bei der örtlichen Tageszeitung – sich zunehmend auf der Suche nach einem phantomhaften Killer verliert.

    Am Ende dieser Entwicklungen stehen die Protagonisten im Dark Drama. Hier gibt es kaum noch eine Abgrenzung der Figuren vom Zuschauer und dessen eigener Lebenswelt. Im Fokus stehen nicht mehr Verbrecher (klassischer Krimi, früher Thriller, Actionfilm), psychisch gestörte Killer oder sogar Ermittler (Psychothriller, Thrillerdrama), deren Wahnsinn immer noch über Serienmorde oder andere grausame Verbrechen verhandelt werden und von der alltäglichen Erfahrungswelt des Zuschauers abgekoppelt sind.

    Stattdessen sind es im Dark Drama nun Alltagsmenschen, deren psychische Störungen, Identitätskrisen oder zunehmende Identitätszersetzungen thematisiert und erforscht werden – ob ehrgeizige Balletttänzerin (Black Swan), phantasierender Teenager (Donnie Darko), drogenabhängige Teenager (Requiem for a Dream), entfremdete Städterin (Die Wand), trauernde Eltern (Vinyan), schlafloser Angestellter (Fight Club), Kriegsveteran (Jacob’s Ladder), Liebespaar (Eternal Sunshine of the Spotless Mind), Ehepaar (Possession) oder einfach drei Großstadt-Freunde (Irréversible).

    Mit Alltagsmenschen als Hauptfiguren gibt es auch kaum noch Verbrechen, die ermittelt werden müssen. Vielmehr ist der Protagonist sein eigener Antagonist, der seinen Konflikt mit sich selbst austragen muss.

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    Antihelden und Villain-Protagonists

    Protagonisten im Dark Drama können Anti-Helden sein – klassisch passive, überpsychologisierte Nicht-Helden, die auf Dinge reagieren, die ihnen passieren. Die von Martina Gedeck gespielte Frau in Julian Pölslers Die Wand (2012) ist so eine Anti-Heldin, gleiches gilt für die drogensüchtigen Hauptfiguren in Requiem for a Dream und Gaspar Noés Enter the Void (2009) oder den Vietnamveteranen Jacob in Adrian Lynes Jacob’s Ladder (1990).

    Aber das Genre neigt auch zu starken Villain-Protagonists, also getriebenen, aktiven, aber unmoralischen oder verirrten Helden – im Wortsinne also ›bösen Protagonisten‹. Mit der überstilisierten Hauptfigur der Rächerin Lee Geum-ja werfen wir in Park Chan-wooks Sympathy for Lady Vengeance (2005) einen gewalttätigen, poetisch-abgründigen Blick in die Seelenwelt eines adoptierten Mädchens. Nina in Black Swan wandelt sich im Verlauf des Films ebenso in eine (selbstzerstörerische) Villain-Protagonistin wie die lange Zeit von Männern auf einer Insel unterdrückte und malträtierte Kim Bok-nam in Bedevilled. In David Finchers Fight Club (1999) finden wir in dem Erzähler und seinem Alter Ego Tyler Durden eine komplexe, ständig zwischen Anti-Held und Villain-Protagonist pendelnde Figur. Gleiches gilt für Leonard Shelby in Christopher Nolans Vergesslichkeitsthriller Memento (2000) oder für die aufstrebende Schauspielerin Betty in David Lynchs Mysterypuzzel Mulholland Dr. (2001).

    Der dunkelste Ort der Seele

    Fantasy führt in phantastische Welten, Science Fiction in den Weltraum oder die Zukunft. Dark Drama führt die Hauptfigur an den Grund der eigenen Seele. Während der Horrorfilm vor allem die Bekämpfung jener in Monstern und übersinnlichen Schrecken manifestierten Ängste thematisiert, die aus den Innersten unserer eigenen Psyche hervorquellen und per ›Schocktherapie‹ zu heilen versucht, müssen die Protagonisten im Dark Drama zur tiefsten Quelle der Angst und des Wahnsinns selbst vordringen.

    Dort, im ›dunkelsten Raum‹, am ›tiefsten Ort‹, am ›Abgrund‹, findet die Konfrontation mit dem dunklen, antagonistischen Ich statt, mit der schrecklichsten und abgründigsten Variante unseres eigenen Selbst. In Jacob’s Ladder führt die titelgebende Leiter (»The ladder down there.«) hinab in die finstere Tiefe eines Lochs, in dem der Protagonist erkennen muss, wer er in Wahrheit ist. In Perfect Blue ist es die Internetseite, die ein manischer Fan über das Pop-Idol Mima anlegt und dort erschreckend echte Tagebucheinträge postet. Die Seite heißt sehr sprechend »Mimas Room«, und dort ist zu lesen: »The real Mima wrote this.« Die packendste Szene in Mulholland Dr. ist, als Betty – eigentlich auf der Suche nach der Identität einer anderen Frau – eine verrottete Leiche in einem dunklen, verlassenen Apartment findet, die in direkter Verbindung zu ihr selbst steht.

    Die Protagonisten im Dark Drama verfolgen oft ein Ziel, das letztendlich nur eine Leerstelle ist, die mit Wahnsinn gefüllt wird. In Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes (1972) ist es die legendäre Goldstadt El Dorado, die der spanische Konquistador Don Lope de Aguirre sucht, aber nur seinen eigenen Wahnsinn im Dschungel findet. Noch stärker von Joseph Conrads Roman Heart of Darkness (1899) inspiriert ist Francis Ford Coppolas düsteres Kriegsdrama Apocalypse Now (1979), das am Ende ebenfalls nur mythisch aufgeladenen Wahnsinn bereithält, genauso wie das wiederum von Coppola inspirierte Horrordrama Vinyan (2008) von Fabrice Du Welz. Dort ist es ein Elternpaar, das im primordialen Dschungel von Burma nach ihrem im Tsunami verlorenen Sohn sucht. Burma wird im Film als »closed land« bezeichnet, in das nur zwielichtige Gangster die Eltern führen können – eine sehr deutliche Ausprägung des ›dunkelsten Orts‹.

    Alptraumhafte Wunschphantasien

    Der Wahnsinn hat eine konkrete Ursache: Der dunkelste Ort der Seele ist mit menschlichen Begriffen nicht mehr fassbar und kann deshalb nur als schrecklich, chaotisch und identitätszersetzend empfunden werden. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«, stellte Wittgenstein einst fest. Oder anders: Was wir nicht in Worte fassen können, liegt außerhalb unseres Fassungsvermögens und macht uns Angst. Der französische Poststrukturalist Jacques Lacan nennt das in seinen Theorien das »Reale«, das hinter unserer Realität Liegende, das wir Menschen mit unseren Symbolsystemen (Sprachen) nicht mehr erfassen und maximal erahnen können.

    Diese fremde Dimension außerhalb unseres eigenen, bewussten Ichs wird von unserem dunklen, antagonistischen Ich bewohnt, genährt von unseren innersten Wünschen, Hoffnungen und Fantasien. Diese manifestieren sich im Dark Drama in einer pervertierten Version unseres eigenen Ichs. In seiner Interpretation von Lacans Theorien sagt Slavoj Žižek: »We have a perfect name for fantasy realised. It’s called ›nightmare‹.«

    Wenn also John Baxter in Nicolas Roegs Don’t Look Now (1973) den Tod seiner Tochter im roten Regenmantel nicht verwunden hat, dann manifestiert sich nach und nach ein perverses Abbild von ihr in den labyrinthartigen Gassen von Venedig. Gleiches gilt für Jeanne in Vinyan, die davon überzeugt ist, dass ihr Sohn nach dem Tsunami noch lebt und sie ihn im Dschungel finden kann. Tatsächlich wird ihr Wunsch nach einer Rückkehr in ihre Mutterrolle in schrecklicher Weise erfüllt. Auch Scottie in Alfred Hitchcocks Früh-Dark-Drama Vertigo (1958) versucht, sich seine Traumfrau Madeleine noch einmal zu erschaffen, nur um sie erneut im tragischen Fall von der Turmspitze zu verlieren.

    In Perfect Blue muss Mima ins (zur Entstehungszeit des Films noch relativ unbekannte und) in seinen Dimensionen bis heute von uns nicht erfassbare Internet, um nicht nur »Mimas Room« zu finden, sondern auch ihre bösartige Doppelgängerin. Der drogenkonsumierende Oscar in Enter the Void überschreitet im Club The Void (die Leere) alle physischen Grenzen und erfährt den gewaltigsten und schrecklichsten »Trip« überhaupt. Und auch in Black Swan manifestiert sich Ninas Wunsch, eine perfekte Schwanenkönigin zu werden, und das Abgründig-Böse dieses Traums bricht sich Bahn.

     
    Teil 2: Stilmittel des Genres und Spezialformen geht auf verschiedene Erzählelemente und das Motivinventar von Dark Drama ein und stellt auch drei beispielhafte Subgenres vor.