1. Dark Drama – Teil 3: Filmgeschichte 1920er bis 1950er

    08.01.2014 /// /

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    In Teil 2 von Höllentrips aus der Postmoderne von Mark Wachholz wurden wichtige Stilmittel und das Motivinventar von Dark Drama sowie einige Subgenres vorgestellt. In diesem und dem folgenden Teil werden wir einen Blick in die Filmgeschichte: Wo finden sich die Wurzeln von Dark Drama, und welche wichtigen Entwicklungen gab es, bis das Genre bis zu seiner heutigen Form gefunden hat. Wir beginnen in der Stummfilmzeit der 20er Jahre, schauen uns psychologische Einflüsse im Hollywood-Kino der 40er Jahre und vor allem den Film Noir an.
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    Teil 1: Was ist Dark Drama – Einführung und Hauptfigur
    Teil 2: Stilmittel und Spezialformen von Dark Drama
    Teil 3: Dark Drama Filmgeschichte: 20er bis 50er
    Teil 4: Dark Drama Filmgeschichte: 60er bis heute
    Teil 5: Deep Theory und Entwicklungspotentiale von Dark Drama
     

    Eine kurze Geschichte des Dark Drama I: 1920er bis 1950er

    Trotz der Annahme, Dark Drama ist in seiner hier beschriebenen Form als ein Genre des Übergangs ein Produkt der Postmoderne und damit unserer Zeit, haben immer wieder Vorläufer und Ahnen des Genres extreme gesellschaftliche Umbrüche im psychischen Zerbrechen ihrer Figuren reflektiert. Im Folgenden einige Schlaglichter der Filmgeschichte des Dark Drama.

    1920er: Hysterische Männer in der Weimarer Phantastik

    Der Erste Weltkrieg als wahnhafter Höhepunkt der Industrialisierung der Moderne, in dem zum ersten Mal Panzer, Giftgas, Flugzeuge und U-Boote eingesetzt wurden, ließ besonders im deutschen Kino erste Protoformen des Dark Drama entstehen.

    In den Jahren direkt nach dem Krieg ist eine Zunahme von hysterischen Männerfiguren festzustellen, die – meist im Liebeswahn – ihren Verstand verlieren. Wahnsinn und Zerbrechen der Psyche flossen in das damals populäre Melodram ein, das mit expressionistischen Elementen im Schauspiel und in der Inszenierung erweitert wurde. Plötzlich wurden Dramen und Tragödien jener Zeit vermehrt mit phantastischen Elementen wie Illusionen, Visionen, Alpträume und Wahnvorstellungen angereichert und legten damit den Grundstein für die ›Weimarer Phantastik‹.

    Der Fokus auf das (Melo)drama im phantastischen Stoff ist dabei beispielsweise schon beim deutschen Film-Urklassiker Der Student von Prag (1913) festzustellen, der hauptsächlich das schicksalhafte Leiden des Protagonisten Balduin über sein lebendig gewordenes Spiegelbild erzählt. Auch in Conrad Veidts verschollenem Expressionismusdrama Wahnsinn (1919) verliert sich ein Mann langsam in »krankhaft verirrter Psyche«, nachdem ihm ein Wahrsager Glück und Tod durch eine ominöse Truhe prophezeit hat.

    Robert Reinerts Nerven (1919) (Youtube-Link) erzählt von dem Industriellen Roloff, der so aufgewühlt ist von der Zerstörung seiner Fabrik, dass er die falschen Anschuldigungen seiner Tochter gegen ihren Lehrer für wahr hält und daraufhin in immer dramatischere Wahnvorstellungen und Träumen stürzt. Die These des Films, dass die Völker »von Nervenepidemien ergriffen« sind, zeigt sich nicht nur in der fast alle Figuren ergreifenden Hysterie, sondern auch in einer schon deutlich fragmentierten und zum Teil auch unzuverlässigen Erzählweise in Form von Flashbacks, Visionen und Parallelhandlungen. Zwar hält Nerven wie andere Filme dieser Zeit ein positivistisches Ende in Form einer ›Back to Nature‹-Parole bereit. Diese steht aber in starkem Kontrast zu den vielen Toten, die im Film an der Hysterie zugrunde gehen – insbesondere Roloff selbst, dem der Nervenarzt zum Selbstmord rät, weil er anders nicht mehr zu heilen sei. So stirbt der psychisch Kranke mit folgenden Worten an sein unschuldiges Opfer Johannes: »Wie wohl ist mir! Eutanasie. Schön sterben nannten es die Griechen … ich danke dir, Johannes.«

    Die ›Weimarer Phantastik‹ wird definiert durch Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) und Friedrich Wilhelm Murnaus Dracula-Adaption Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922). Im Gegensatz zu den zeitgenössischen Psychodramen als Vorläufer des heutigen Dark Dramas sind diese beiden Filme Urväter des Horrorfilms, weil sich hier Schrecken und Tod bereits in physischen Monstern manifestieren und auch physisch bekämpft werden müssen. Der Schlafwandler in Caligari oder der Vampir in Nosferatu stehen selbst im Zentrum der Erzählung und sind nicht mehr nur Motiventlehnung zur Illustration von Wahnsinn. Caligari kann dabei noch als eine Art Brückenfilm verstanden werden kann, da er am Ende den Schrecken doch nur als krankhafte Einbildung des Protagonisten deklariert. Dennoch liegt auch hier der Hauptfokus der Erzählung auf Horror und Thrill durch den mordenden Schlafwandler und den dämonischen Zirkusdoktor.

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    Deutlich näher an den Narrativen des Dark Drama ist beispielsweise das ebenfalls von Murnau inszenierte Liebesdrama Phantom (1922), das erneut von einem hysterisch-verliebten Mann handelt, den surreal-traumartige Halluzinationen plagen und der sich mit seinem außer Kontrolle geratenden Verlangen immer mehr in den Abgrund reißt. Hier mischen sich klassisches Schicksalsdrama und erste Ansätze von Genre-Techniken und Erzählelementen des Dark Drama. Der Film arbeitet mit Genre-Elementen wie Mystery und später sogar Thriller, hat als zentrales Thema eine Identitätserosion, die sich nicht zuletzt auch in einem Doppelgänger-Motiv zeigt (Lorenz verliebt sich aus Not prompt in eine abgehalfterte Rotlichtmillieu-Version seiner Angebeteten) und ist bereits als – tendenziell unzuverlässige – Rückblende erzählt. Auch Phantom lässt seinen Protagonisten am Ende dann doch nicht im Wahn zurück, weist aber erzählerisch bereits wichtige Gemeinsamkeiten mit dem heutigen Dark Drama auf – gerade im Kontext seiner Zeit.

    Arthur Robisons Schatten – Eine nächtliche Halluzination (1923) ist ein früher Vertreter des Dark Drama, in dem die Leinwand als sprichwörtliche Projektionsfläche der dunklen, verborgenen Seite unseres Ichs elementar ist: Ein erneut liebeskrank-hysterischer Mann quält sich während eines nächtlichen Gelages mit Eifersucht, als ein Geschichtenerzähler die adlige Gesellschaft in die Parallelwelt seiner Schattenspiel-Geschichte zieht und dort die finstersten Wünsche der Hauptfigur Realität werden. Der Film lässt den Zuschauer immer wieder im Unklaren, was Illusion und was Realität ist und arbeitet äußerst konsequent mit der visuellen Inszenierung von Schatten als Abbilder der dunklen Seite unserer Seele.

    Gekonnt spielt Schatten auch mit weiteren Stilmitteln des Proto-Dark-Drama: Wenn nicht gerade die Schatten Brüche zwischen Wahrheit und Trug erzeugen, dann tauchen Spiegel auf, in denen sich die manische Hauptfiguren mehr und mehr verdoppelt oder zersplittert. Die ›Krassheit‹, die Dark Drama möglichst braucht, führt in Schatten zu einer besonders konsequenten Szene, als der Protagonist in seinem Wahn seine Konkurrenten dazu zwingt, die Frau seines Herzens mit Degen zu durchbohren. Der innerlichste Wunsch, die Frau nicht teilen zu müssen, wird hier erfüllt und gleichzeitig zum größten Alptraum – eines der Kernthemen des Dark Drama.

    Die zunehmende Reflexion innerer Seelenreisen im deutschen Film nach dem Ersten Weltkrieg fand nicht zufällig parallel zur Veröffentlichung der Schriften Sigmund Freuds statt, der u.a. mit Das Unheimliche (1919) eine wichtige Abhandlung für das Verständnis von Genres wie Horror oder Dark Drama veröffentlichte. Weil die Psychoanalyse eine Heilung der Identitätsstörungen versprach, fanden die um kranke männliche Psychen gestrickten Dark-Drama-Vorläufer in Georg Wilhelm Pabsts Geheimnisse einer Seele (1926) ein vorläufiges Ende. Bei Veröffentlichung als »psychoanalytischer Film« beworben und unter Hilfe von Schülern Freuds entstanden wurden in dem Film die Fragmente der angegriffenen Psyche nach und nach wieder zusammengesetzt: Ein von Wahnvorstellungen und Alpträumen geplagter Mann unterzieht sich einer Behandlung auf der Couch und wird in therapeutischen Sitzungen, in denen seine – trickreich stark inszenierten – Träume gedeutet werden, geheilt. Hier zeigt sich auch der stärkste Unterschied zum heutigen Dark Drama, das eben nicht in der Heilung der kranken Psyche, sondern wenn dann in ihrer vollständigen Auflösung so etwas wie eine positive Botschaft zu senden versucht.

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    1920er: Groteske Schicksalsdramen in Hollywood

    Vorläufer des Horrorfilms entstanden nach dem Ersten Weltkrieg auch im amerikanischen Kino – oft in Form von Schauermelodramen mit meist deformierten oder körperlich versehrten und damit monströsen Villain-Protagonists, meist verkörpert vom »Man of a Thousend Faces« Lon Chaney in Filmen wie Wallace Worsleys The Hunchback of Notre Dame (1923) und Robert Julians The Phantom of the Opera (1925).

    Noch näher stehen diese und andere Filme aber dem Dark Drama. Anders als in Deutschland spielen sie nicht so sehr mit narrativen Fragmentierungen, unzuverlässigem Erzählen oder surrealen Traumsequenzen. Der Wahnsinn zeigt sich hier eher in der verunstalteten Körperlichkeit der oft antagonistischen Hauptfiguren, in deren Blickwinkel der Zuschauer gezwungen wird. Diese Figuren sind entstellt und wirken damit (wie auch die Monster im Horrorfilm) grenzüberschreitend – zwischen Realität und Wahn, als Verkörperung einer sich transformierenden Zeitepoche. Dazu kommt schon früh eine äußerst starke Hyperkonsequenz und Gnadenlosigkeit in der Narration der Filme, die zwar grundsätzlich die Züge eines tragischen Schicksalsdramas hat, die Werke aber zum Teil bittere, fatalistische und makabre Rachegeschichten sind, wie sie später auch im Dark Drama inszeniert werden. Ebenfalls festzustellen sind Vermengungen mit anderen (Protoformen von) Genres wie Crime, Thriller oder eben Horror.

    In The Penalty (1920) von Wallace Worsley spielt Lon Chaney den Gangsterboss Blizzard, dem als Kind versehentlich beide Beine amputiert wurden und der nun den künftigen Schwiegersohn des damaligen Arztes entführt, um sich dessen Beine transplantieren zu lassen. So, wie Unternehmer Roloff in Nerven nur durch vom Psychiater empfohlenen Selbstmord von seinem Geistesleiden erlöst werden kann, so ist es hier die Gehirnoperation, die Blizzards verbrecherische Psyche »heilt« (aber ihn am Ende doch nicht vor dem Tod bewahrt). Tod Brownings The Unknown (1927) zeigt Lon Chaney als angeblich armlosen Messerwerfer Alonzo, der seine Hände versteckt, um nicht als Mörder entlarvt zu werden. Als er sich in die schöne Nanon verliebt, die sich vor Berührungen ekelt, lässt er sich jedoch beide Arme tatsächlich amputieren – nur um festzustellen, dass sie sich in einen anderen verliebt hat.

    Impulse für das spätere Dark Drama können auch in Paul Lenis in Hollywood gedrehter Victor-Hugo-Verfilmung The Man Who Laughs (1928) entdeckt werden: Der Hauptfigur Gwynplaine wurde als Kind ein ewig-starres Grinsen ins Gesicht geschnitten. Der Film wird oft als ein Horrorklassiker gehandelt, aber ist im Kern ein düsteres Melodram mit einer grotesken Hauptfigur (und einem vom Studio erzwungenen Happy End). Damit ist sie zusammen mit den vielen von Lon Chaney dargestellten entmenschlichten und doch sehr menschlichen Figuren Dark-Drama-Figuren wie zum Beispiel in David Lynchs The Elephant Man (1980) näher als Horrorfilm-Monstern wie Dracula oder Frankensteins Kreatur.

    1920er: Individueller Meilenstein in Japan

    Inspiriert durch expressionistische Meisterwerke wie Das Cabinet des Dr. Caligari in Deutschland und die impressionistischen Stakkato-Montagetechniken eines Abel Gance mit La Roue (1923) in Frankreich und Sergej Eisenstein mit Panzerkreuzer Potjemkin (1925) in der Sowjetunion entstand in Japan mit A Page of Madness (1926) (Youtube-Link) von Teinosuke Kinugasa und der Künstlergruppe des Stils der Neuen Wahrnehmung ein avantgardistisches Ausnahmewerk.

    In einem kontinuierlichen Strudel an Bilderkaskaden erzählt der Film die Geschichte des Hausmeisters einer in Wahnsinn liegenden Nervenheilanstalt, in der auch seine Frau eingewiesen wurde, die er befreien möchte. Selbst mit der Einschränkung, dass der Film heute nur noch in einer gekürzten, vom Regisseur noch einmal bearbeiteten Fassung erhalten ist und auch ohne Benji (dem erklärenden und synchronisierenden Sprecher im japanischen Kino) gezeigt wird, ist A Page of Madness ein früher Meilenstein des Dark Drama: Die Erzählstruktur ist bereits vollständig aufgebrochen und fragmentiert, durchsetzt mit Rückblenden und surrealistischen Szenen, die hochgradig unzuverlässig sind und diverse Ebenen von Realität umfassen. Auch wenn er sich keiner Horror- oder Mystery-Elemente bedient, so ist doch die Inszenierung des Films extrem illusionistisch und vermittelt eine unheimliche Atmosphäre der sich zersetzenden oder bereits vollständig erodierten Psyche. Der dunkelste Ort der Seele ist die Nervenheilanstalt selbst, in der sowohl die völlig wahnsinnige Frau als auch ihr gebrochener Mann zusammenfinden und ihr gemeinsames Trauma noch einmal (in Rückblenden) lebendig wird.

    Doch wie im heutigen Dark Drama ist auch bereits in A Page of Madness die zersplitterte, sich in Wahnsinn auflösende Psyche nicht nur Grauen und Schrecken präsent (wie es die ›dämonische Leinwand‹ der angstbesessenen Weimarer Phantastik zeigte), sondern auch in einer Form von Hoffnung. Nach Jasper Sharp zeigt der Film »mental illness with much empathy towards human suffering, with its opaqueness, its violence and paralysis. The mental images show not only nightmares and hallucinations, of both the sane and mentally ill characters, but also imaginations of restored integrality, of beauty, and laughter. A good example is the dancer with her torn dress on the level of reality, who appears in mental images in beautiful dresses.«

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    1940er und 1950er: Psychoanalytische Melodramen und Film Noir

    Anfang der 40er Jahre entdeckte das amerikanische Mainstream-Kino psychoanalytische Theorien und griff insbesondere zu Freud. David Bordwell schreibt 2012 in seinem Essay The Viewer’s Share: Models of Mind in Explaining Films:

    »Freudian psychoanalysis had been picked up by elite culture in the 1920s and 1930s, but in the 1940s it became common currency in the popular arts as well. A great many Hollywood films made explicit or implicit references to the unconscious, repressed desires, disguised wishfulfillment, Oedipal relations, and other tenets of classic Freudianism. […] The plots are often driven by a mystery, so that the doctor plays detective in uncovering repressed childhood memories or forbidden impulses.«

    Die Mischung aus mystery-Melodram* und psychoanalytischer Spurensuche in Gestalt von seelisch gequälten Figuren oder ermittelnden Psychoanalytikern, vermengt mit Traumsequenzen und Brüchen in der Erzählstruktur, ist prominent vertreten in Filmen wie Sam Woods Kings Row (1942), Alfred Hitchcocks Spellbound (1945), John Brahms The Locket (1946), Robert Siodmaks The Dark Mirror (1946) oder Anatole Litvaks The Snake Pit (1948). (*Der Begriff mystery ist in diesem Zusammenhang in seiner englischen Bedeutung als normaler ›Rätselplot‹ (wie in »murder mystery«) zu verstehen und nicht in der allgemeinen deutschen Bedeutung eines Stoffes mit übernatürlichen, paranormalen oder phantastischem Elementen.)

    Als ein direkterer Vorläufer des heutigen Dark Drama dürfte der Film Noir gelten. Hervorgegangen aus der amerikanischen hard boiled fiction-Literatur der 30er Jahre um Autoren wie Dashiell Hammett, Raymond Chandler oder James M. Cain, dem Poetischen Realismus im französischen Kino der 30er und dem deutschen Expressionismus der 20er Jahre zentriert sich im Film Noir der Narrativ vom traumatisierten Mann in schicksalhafter Verstrickung, aus der ein Befreien nicht gelingen kann.

    Ähnlich wie Expressionismus, Weimarer Phantastik und Schauermelodram nach dem Ersten Weltkrieg war der Film Noir eine direkte Antwort auf die gesellschaftlichen Verwerfungen, die der Zweite Weltkrieg brachte. Für Amerika waren das vor allem der Angriff auf Pearl Harbor, ein wirtschaftlicher Niedergang und die zurückkehrenden Soldaten aus dem Krieg, deren Posttraumatische Belastungsstörung damals noch »Shell Shock« hieß und kaum behandelt wurde. Diese Männer waren nicht nur konfrontiert mit inneren Dämonen, sondern auch mit einer Gesellschaft, in der sie keinen Platz mehr fanden, in der plötzlich Frauen die leeren Arbeitsplätze übernommen hatten und ein neues Selbstbewusstsein entwickelten – starke persönliche Entfremdungen in gesellschaftlichen Umbruchsphasen, die die eigene Identität in Frage stellen.

    Mehr noch als das psychoanalytische mystery-Melodram der 40er Jahre zeichnet sich der Film Noir durch eine Verstärkung von jenen Filmsprache-Elementen aus, die auch das Dark Drama maßgeblich bestimmen: Entlehnung von Motiven klassischer Genres (hier vor allem Crime, früher Thriller, manchmal Horror oder Mystery) und daraus folgend auch eine starke genreaffine Bildsprache und Atmosphäre (low-key-Inszenierung mit wenigem, dafür aber sehr kontrastreichem Licht, urbane Düsternis und Bedrohung, ungewöhnliche, verzerrende Kameraperspektiven). Dazu waren die Filme für ihre Zeit auffallend brutal (zum Teil mit Umgehung des damals noch gültigen production codes – es wurden auch schon einmal Figuren sichtbar auf der Leinwand erschossen) und führten zudem den Protagonisten oft hyperkonsequent in den Abgrund.

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    Manche Film Noirs warten bis heute mit einer ungewöhnlichen Krassheit auf, wie beispielsweise der in fiebrigem Wahnsinn und fatalistisch endende Kiss Me Deadly (1955) von Robert Aldrich oder Billy Wilders Sunset Bldv. (1950), in dem der bereits zu Beginn tot im Swimmingpool treibende Protagonist (auch noch ein Drehbuchautor) die Geschichte seines Todes retrospektiv erzählt. Nicht zuletzt auch durch exzessive, zum Teil mehrfach in sich verschachtelte Flashbacks wie in The Locket, in Michael Curtiz’ Passage to Marsaille (1944) oder Stanley Kubricks The Killing (1956) wurde die klassische Erzählstruktur als Ausdruck der zerrütteten Psyche der Figuren immer wieder aufgebrochen.

    Auf eine starke Reflexion und Verarbeitung von heftigen Identitätskrisen weist auch das Doppelgänger-Motiv hin, das nach den 10er und 20er Jahren in Deutschland im amerikanischen Film Noir (der wiederum extrem von Emigranten aus Deutschland geprägt war) mit Produktionen wie The Dark Mirror, John Reinhardts The Guilty (1947), Steve Sekelys Hollow Triumph (1948), Edward Montagnes The Man with My Face (1951) oder Terence Fishers Stolen Face (1952) eine Hochzeit fand.

    Im Film Noir sind noch nicht alle Merkmale des heutigen Dark Drama voll ausgeprägt. Insbesondere die männlichen Protagonisten sind häufig Polizisten, Detektive oder Verbrecher und damit weniger Alltagspersonen. Auch wird sich neben Crimethriller und selten Horror kaum anderer Genres bedient (wie zum Beispiel Fantasy oder Science Fiction). Vor allem aber ist Film Noir – typisch für die filmgeschichtliche Ära – immer noch stark dem Melodram verhaftet, was aus heutiger Perspektive zumindest das ernsthafte Drama tendenziell abschwächt. Dennoch hat Film Noir Dark Drama, wie wir es heute kennen, entscheidend vorbereitet.

    Fasst man die Definition von Dark Drama sehr eng, so gibt es im Film Noir nur wenige ausgewählte Vertreter des Genres, die aber für ihre damalige Zeit ähnlich verstörend gewesen sein dürften wie heutige Meilensteine des Genres. Zum einen könnte man Orson Welles Touch of Evil (1958) nennen, der filmhistorisch das Ende des klassischen Film Noirs darstellt und eine Mischung aus schwitzigem Krimithriller und bösem Psychodrama darstellt, in der Gut und Böse nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Vor allem aber Hitchcocks im gleichen Jahr veröffentlichter Vertigo ist bereits ein Dark Drama im vollem Umfang.

     
    Teil 4: Eine kurze Filmgeschichte des Dark Drama: 1960er bis heute führt uns vom europäischen Kino der 60er, als Film “sich selbst bewusst” wird zu den ersten klassischen Dark-Drama-Vertretern und den Einflüssen durch die sogenannten mindfuck-Filme der 90er bis in die Gegenwart.