1. Die Gedanken sind frei – Teil IV

    12.04.2013 /// /


    Zum Abschluss stellen wir uns die Frage, was für ein Publikum eigentlich von Phantastik angesprochen wird:

    Wer schaut sich sowas an?

    Bei der bisherigen Bearbeitung dieses Themenkomplexes fiel auf, dass Kritiker sehr oft nur über die Genres Science-Fiction, Fantasy und Horror und ihre potenziellen (schädlichen?) Wirkungen geschrieben haben, aber nur sehr selten sich die Frage stellten: Was für Menschen interessieren sich für Phantastik?

    Zuerst einmal ganz allgemein betrachtet: Fans

    Es gibt natürlich auch Rosamunde-Pilcher-Fans, aber gerade im Blick auf Phantastik zeichnet sich das ganze sehr deutlich und auch sehr spezifisch ab. In der angloamerikanischen Soziologie spielen “Fandom” und “Fan Culture” entsprechend auch schon seit vielen Jahren eine Rolle (siehe z.B. Henry Jenkins). Großes Interesse gilt z.B. auch dem kreativen Engagement der begeisterten Anhänger, die sich im Internet in Unmengen an Fan Fiction ergießt, also von Fans geschriebenen Kurzgeschichten bis hin zu Romanen, sowie den Unterschieden in der Herangehensweise und Ausprägung zwischen weiblichen und männlichen Fans (erstere neigen anscheinend dazu, die Parameter spielerisch und frei komplett zu verändern, während letztere dazu tendieren, den Kanon einzuhalten und die Welt nur unter bestehenden Regeln zu erweitern). Dieses Phänomen einer partizipatorisch-transformativen Kultur ist innerhalb der Phantastik und unter Phantastik-Fans ganz besonders stark zu beobachten. Von der Rosamunde-Pilcher-Fangemeinde kann man dies eher nicht behaupten.

    Worin besteht also nun der Unterschied zwischen diesen und jenen Fan-Kreisen? Was für Menschen werden Phantastik-Fans?

    Eine Gruppe sticht da sehr stark heraus: Nerds und Geeks – sie bilden nicht unbedingt die Mehrheit, jedoch den meinungsbildenden, harten Kern des Phantastik-Publikums.

    Die US-Filmindustrie hat dies längst begriffen und nimmt sie als Zielgruppe daher sowohl wahr als auch ernst. Moderne Comic-Verfilmungen wie “The Dark Knight” (2008) oder “Watchmen” (2009), die an ein erwachsenes Publikum gerichtet sind, werden durch die Fan-Euphorie im Internet getragen, aber sind auch dem sehr kritischen Blick der Anhänger ausgesetzt, und damit dazu gezwungen nah am Ausgangsmaterial zu bleiben und nicht zu viele Mainstream-Kompromisse einzugehen. Nerd-Kultur ist seit dem Siegeszug des Internets immer weiter auf dem Vormarsch (kleine Anekdote am Rande: die erste Untergruppe im Vorreiter Usenet musste natürlich für Star-Trek-Fans eingerichtet werden, da deren Beiträge im allgemeinen Diskussionskanal zu sehr überhandgenommen hatten).

    "Out in the wider world, the revolution is already underway. Over the past decade, those cultural phenomena that we once filed as geeky minority pursuits have become our masters. [...] For its part, the film industry seems increasingly in thrall to the comic-book movie (Spider-Man, Hulk), the sci-fi epic (The Matrix, Star Wars) and the wizard fantasy (Harry Potter)."

    "So what is the nerd pound worth? The fact that The Matrix and Lord of the Rings movies have pulled in $1.5bn and counting seems a good ballpark figure to begin with. Moreover, their success seems to hint at a sea-change within the industry as a whole. 'There has been a huge shift in the market place,' reckons Paul Dergarabedian, president of the US box office tracking firm Exhibitor Relations. 'Blockbusters have become very sophisticated versions of what were once seen as exploitation movies: martial-arts films, fantasy films, science-fiction films. All of which people loved, but which were decidedly B-movies that were not aimed at mainstream audiences.'

    Nick Hunt, reviews editor at Screen International, thinks that this has a lot to do with the directors themselves. 'We are witnessing a new synergy,' he explains. 'There's a new breed of film-maker who has more sympathy to this kind of material than your typical bunch of Hollywood suits. [...]'

    In the end, it's hard to overstate the impact of the internet on this new world order. It has been argued that fan sites and chat forums have legitimised the nerds, giving them a voice and making them an important demographic to be catered to.

    When embarking on their Lord of the Rings trilogy, backers New Line assiduously courted the Tolkien fan sites, keeping them appraised of fresh developments, lavishing them with sneak previews of the script and flying Harry Knowles (founder of Ain't It Cool News) out to the shoot in New Zealand. [...] Over at Marvel studios, there is a similar respect for the web user. 'I used to hate the internet,' studio chief Ari Avad recently confessed to USA Today. 'I thought it was just a place where people stole our ideas. But I see how influential the fans can be in building a consensus. I now consider them as film-making partners.'"

    In Deutschland steckt das alles immer noch ganz tief in den Kinderschuhen. Ein Einfluss der deutschsprachigen Filmfan-Communities auf den hiesigen Filmbetrieb tendiert weiterhin so ziemlich gegen Null. Der durchschnittliche TV-Redakteur wird davon genausowenig tangiert wie Gremienmitglieder aus den staatlich finanzierten Filmförderungen. Ihr Fokus liegt eher auf der breiten Masse oder dem Bildungsbürgertum.
    Auch unter den Filmemachern konnten sich hierzulande bisher nur wenige Phantastik-affine etablieren. Aus Übersee rollt dagegen nach der Generation Spielberg-Lucas-Carpenter schon bereits die zweite (Cameron-Raimi-Jackson-DelToro) und dritte Generation (Nolan-Whedon-Abrams-Snyder-Blomkamp) an.

    Doch es kommt Bewegung in die Angelegenheit: die sich auf Nicht-Nerds und Nicht-Geeks ausbreitende Nerd- und Geek-Kultur gelangte im Rahmen der digitalen Revolution und über US-amerikanische Filme und Serien zunehmend auch hierzulande zu einer gewissen allgemeinen Bekanntheit. Und auch gerade wegen der Piratenpartei hat man inzwischen damit begonnen, sich politologisch und soziologisch mit diesem wohl real existierenden Menschentypus stärker auseinanderzusetzen. Beide Begriffe sind jedenfalls im allgemeinen Sprachgebrauch geläufig geworden, ohne dass es eine adäquate deutsche Entsprechung dafür geben würde – doch was steckt genau dahinter?

    Grundsätzlich sind die beiden Begriffe “Nerd” und “Geek” sehr unscharf und es gibt fließende Übergänge. Wissenschaftlich solide Studien gibt es nur wenige, jedoch einige plausible Theorien aus dem angloamerikanischen Raum, welche darin eine Vorstufe im autistischen Spektrum ausmachen wollen:

    "Im Jahr 2001 berichtete das US-Magazin 'Wired' von einer signifikanten Häufung von Autismus-Fällen im Silicon Valley. Das Magazin spekulierte sogar, das Asperger-Syndrom - eine Störung im autistischen Spektrum, die häufig mit höherer Intelligenz einhergeht - könne durch die Bevorzugung ähnlicher Partner innerhalb der Hightech-Szene weiter vererbt werden. Tatsächlich vermuten einige Neurowissenschaftler einen Zusammenhang zwischen Autismus und hoher naturwissenschaftlich-technischer Begabung. Rund neun von zehn Autisten sind Männer.

    Schon Hans Asperger, der österreichische Kinderarzt und Entdecker des Syndroms, hielt Autismus für eine 'Extremvariante der männlichen Intelligenz'. In einer seiner Arbeiten aus dem Jahr 1943 beschreibt er Fälle von autistischen Jungen, die ihr ganzes Geld für chemische Experimente ausgaben, alles über den Aufbau komplizierter Maschinen wussten oder sich obsessiv mit der Konstruktion von Raumschiffen beschäftigten.

    Eine ähnliche Hypothese vertritt heute der britische Neurowissenschaftler Simon Baron-Cohen. Nach seiner 'Extrememale-brain'-Theorie könnte Autismus eine extreme Ausprägung des männlichen Hangs zum 'Systemisieren' sein. Unter anderem fand Baron-Cohen Hinweise darauf, dass die Väter und Großväter von Autisten in technischen Berufen überrepräsentiert sind."

    "Nerds wollen wissen, wie Systeme funktionieren. Das können technische Geräte genauso gut sein wie wissenschaftliche Disziplinen, eine Körperzelle, ein Fußballspiel oder Schach. Um Systeme zu verstehen, muss man ihre Regeln analysieren. Was passiert, wenn man eine Komponente des Systems verändert. Wie sich ein Input auf den Output auswirkt. Wer Systeme versteht, kann sie beherrschen und verändern - und gegebenenfalls neue konstruieren."

    Hierzu muss erläutert werden, dass es natürlich auch weibliche Nerds gibt, denn die Ausrichtung und Prägung des Gehirns ist laut dieser Theorie nicht zwingend vom körperlichen Geschlecht abhängig. “Männlich” ist insofern nur ein Etikett für Wesenszüge, die man eher bei Männern antrifft als bei Frauen. Die allermeisten Menschen haben in Wahrheit gut gemischte Wesenszüge, mit einer leichten bis mehr oder weniger klaren Neigung zur einen oder anderen Seite. Den Rest macht dann die Erziehung und die normative Erwartung der umgebenden Gesellschaft.

    Menschen mit unausgewogenen Gehirnen merkt man es jedoch an, dass sie ein wenig anders sind als der Durchschnitt. Auf der einen Seite stehen in ihren Denkstrukturen und in ihrem Verhalten herausstechende hyperfeminine Frauen und Männer, im angloamerikanischen Kulturraum auch bekannt als “girly girls” bzw. “sissy boys” – und auf der anderen Seite hypermaskuline Männer und Frauen, auch bekannt als “nerds” und “geeks” bzw. “nerd girls” und “geek girls”.

    Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau, Autor von “Nerds. Wo eine Brille ist, ist auch ein Weg” (2012) weiß im Interview (neben den üblichen – sicherlich durchaus oft zutreffenden – Klischees bezüglich geringem Glück beim anderen Geschlecht und mangelnder Körperhygiene) folgendes zu berichten:

    "Zittlau: [...] Ein weiterer Wesenszug ist, dass Nerds Geld und Besitz meistens recht egal sind, wenngleich manche Nerds Milliardäre sind, wie einst Steve Jobs.

    BZ: Was können wir Normalos von Nerds lernen?

    Zittlau: Ehrlichkeit. Die Art und Weise, wie Nerds Blender, Betrüger oder Plagiatoren wie etwa Karl-Theodor zu Guttenberg oder Silvana Koch-Mehrin im Internet bloßstellen, ist Nerd-typisch. Einem Nerd ist es wichtig, dass keiner etwas einheimst, was er nicht wirklich verdient. Das ist doch vorbildlich: weniger blenden, mehr Wert legen auf das, was wir wirklich sind."

    "Zittlau: [...] Die Existenz der Nerds ist eine gute Nachricht, weil Nerds ein Zeichen für einen funktionierenden Pluralismus sind. Der verschraubte, verkopfte Typ hätte es in gleichmacherischen, diktatorischen Gesellschaften schwer. [...] Der Fachspezialist, der unbeugsam gegenüber Autoritäten ist und der die Welt um sich vergisst, den gibt es vermutlich schon seit der Steinzeit: Die meisten sind damals jagen gegangen, ein anderer wollte vielleicht lieber Käfer sammeln und sortieren."

    Wie es sich nun auch immer konkret und en detail verhält: Angesichts der Tatsache, dass sich ganz besonders dieser Menschenschlag in der ganzen Welt stark mit Phantastik assoziiert, erscheinen die Vorurteile und Behauptungen der Kulturkritiker und Pädagogen mehr als nur abenteuerlich: Gerade solch individualistischen Menschen sollen sich leicht für faschistoide Ideale erwärmen können? Gerade solch technisch und naturwissenschaftlich interessierten, akkuraten Beobachter und pedantischen Analytiker sollen Gefahr laufen, bei Ausflügen in Fantasie- und Traumwelten den Blick für die Realität, für das Wesentliche zu verlieren? Gerade solch emotional sehr stabilen und eher distanzierten Personen sollen durch drastische Gewaltdarstellungen schnell traumatisierbar und leicht beinflussbar sein?

    Eher unwahrscheinlich.

    Es wäre umgekehrt sehr viel interessanter sich mal anzuschauen, wie jene Menschen dastehen, die mit Phantastik eher wenig bis nichts anfangen können. Denn Phantastik mag für Menschen eventuell nur ein Zeitvertreib sein, um kurz der Gegenwart zu entfliehen (oder dem Kapitalismus oder der technisierten Moderne, wie manche meinen), doch vielleicht ist sie auch einfach nur eine wichtige, spielerische Übung für das Gehirn.

    Wie sehr hinterfragt jemand, der nie in fremden Welten und fiktiven Szenarien unterwegs ist, eine gut fingierte, als real verkaufte Propagandageschichte? Wie leicht fällt es jemandem die realen Zustände zu beurteilen, wenn er nur die Bodenperspektive kennt? Wie gut ist jemand dazu in der Lage, neue Ideen zu entwickeln, wenn er oder sie die Welt lediglich in ihrem Ist-Zustand sieht?

    Und letztlich: Wie stehen jene Gesellschaften da, welche das Potenzial der Phantastik nicht begreifen und nicht ergreifen?

    Deutschland hat dies lange getan, wie diese Artikelreihe hoffentlich gut vermitteln konnte.

    Wollen wir für die Zukunft hoffen, dass es sich (weiter) ändert.

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