1. Das Publikum, das unbekannte Wesen

    16.03.2013 ///

    “Wie oft kommen Sie?” – neulich ein schlüpfriger Altherrenwitz Berlusconis – ist für die Filmbranche die große essentielle Gretchenfrage.

    “Deutschland – kein Arthousepublikum?”

    "Während in den Vereinigten Staaten die Bürger durchschnittlich 4-5mal im Jahr ins Kino gehen, sind in Europa Länder wie Spanien und Frankreich mit 2,5-3,5 Besuchen pro Kopf und Jahr die Kino-Enthusiasten. Mit 1,5-1,6 Besuchen pro Jahr liegt Deutschland am Ende der großen Filmnationen."

    "Von den rund 80 Millionen in Deutschland lebenden Menschen gehen etwa 30-35% wenigstens einmal im Jahr ins Kino. In Frankreich beträgt diese Quote 40-50%, in den USA sogar 60-70%"

    Man stelle sich das einmal vor, der durchschnittliche Deutsche würde sich wie ein durchschnittlicher Franzose oder Spanier verhalten: Er würde doppelt so oft im Jahr ins Kino gehen. Er würde damit dafür sorgen, dass sich die Einspielergebnisse verdoppeln würden. Doppelt so viel Umsatz! Doppelt so viele Einnahmen! Wäre dann nicht eine deutsche Filmindustrie vorstellbar, die auf eigenen Beinen stünde? Eine Filmindustrie, die Risiken einzugehen gewillt wäre? Eine Filmindustrie, die eine größere Vielfalt hervorbringen könnte?

    "Im Bereich der Filmkunst stößt man dann auf die großen Unterschiede. Hier sind insbesondere unsere Filmkunst-affinen Nachbarländer Frankreich und vor allem die Schweiz mit Faktoren 5 bis 10, oder besser gesagt: 500 bis 1000% besser als Deutschland. Wenn also ein Film wie Almodóvars „Alles über meine Mutter", der in Deutschland durchaus von den Kinobetreibern als gutes Geschäft angesehen wurde, eine Reichweite von 0,3% aufwies, was etwa 240.000 Besuchern entspricht, standen dem in der Schweiz oder in Frankreich etwa zehnmal so viel gegenüber."

    Interessant. Wenn der deutsche Filmfan also schon mal ins Kino geht, dann scheint er den “künstlerisch wertvollen” Film also eigentlich eher zu meiden?

    Und wenn wir über Vielfalt sprechen – wie sieht es denn ganz konkret aus in der deutschen Filmlandschaft? Zufälligerweise hat sich eine neue Studie der FFA genau diesem Thema gewidmet – und liefert deutliche Ergebnisse:

    Erkenntnisse:

    1. Der deutsche Genrefilm ist praktisch nicht existent. Wenn er statistisch hier überhaupt auftaucht, dann oft nur über Koproduktionen mit dem Ausland. Über 90% der deutschen Filme sind Dramen, Dokumentarfilme, Komödien oder Kinderfilme.
    2. Erfolgreich sind hiervon vor allem die Komödien und auch Kinderfilme (die sehr oft Genrefilme für die Kleinen sind: also Fantasy, Märchen, Abenteuerfilm)
    3. Mehrere Hundertschaften an Dramen und Dokumentarfilmen werden in Deutschland jedes Jahr in Kinos gezeigt. Die meisten von ihnen ohne nennenswerte Besucherzahlen. (Von 8 Mio. Zuschauern entfallen etwa 1,1 Mio. auf “Vincent will Meer”, das einzige deutsche Drama, dem es gelang die magische Millionenmarke zu durchbrechen, und damit auch ernsthaft Gewinn zu machen.)

    Und wenn wir nun nicht-deutsche Filme mit in den Topf werfen? Dann sieht das ganze so aus:

    Die Statistik betreffend deutscher Genrefilme ist natürlich stark verzerrt, da es nur sehr wenige Filme sind und daher von Jahr zu Jahr stark schwankt, z.B. wenn ein mit dem Ausland koproduzierter Film wie “Resident Evil: Afterlife” mal größeren Erfolg erzielt.
    Der Output aus dem Ausland ist aber relativ konstant und es zeigt sich, dass der Genre-Markt zwar wie erwartet klar dominiert wird von den USA, jedoch auch, dass europäische Produktionen ihnen durchaus Paroli bieten können. Jeder Genrefilmfan weiß, welche Filme aus Frankreich, Spanien, Skandinavien, UK hierfür in jüngster Vergangenheit verantwortlich waren.
    Auf der anderen Seite erwiesen sich die Dramen als nicht gerade sehr effektiv im Werben um die Gunst des Zuschauers: Obwohl 41% aller neu gestarteten Dramen deutsch waren, eroberten sie nur 27% der Besucher. Und obwohl nur 18% aller neuen Dramen US-amerikanisch waren, sind sie für 45% des generierten Publikums verantwortlich.
    Auch der deutsche Kinderfilm schneidet vergleichsweise eher schlecht gegenüber dem US-amerikanischen ab.

    Hätte der deutsche Horrorfilm bessere Chancen? Der deutsche Fantasy- oder Science-Fiction-Film?

    Wir wissen es nicht. Denn er existiert ja praktisch nicht.

    Der tatsächliche Publikumsgeschmack sieht jedenfalls so aus (gelb markiert – Genrefilme):

    Man möchte meinen, dass die Filmgenre-Varianz des deutschen Outputs sich mehr in diese Richtung bewegen sollte. Hier nochmal die “Vielfalt” des deutschen Kinos 2010 bis 2011 (umgefärbt, so dass man es besser vergleichen kann):

    Natürlich ist es nicht ganz korrekt, direkt so zu vergleichen, ohne z.B. die Budgets und vergebenen Fördermittel mit zu berücksichtigen. Denn natürlich kostet ein Fantasyfilm tendenziell mehr als ein Arthouse-Drama oder etwa gar ein Dokumentarfilm. Doch genauso wie es sehr aufwändige und teure Komödien und Kinderfilme gibt, gibt es auch Science-Fiction-, Thriller- und Horror-Stoffe, die mit dem üblichen Budget eines handelsüblichen deutschen Dramas durchaus gut zurechtkommen würden. Und selbst wenn das Budget deutlich höher wäre und dadurch kleinere Arthouse-Dramen “verhindert” werden sollten, so wie es Christoph Hochhäusler anno 2008 beanstandete:

    "Ich weiss, es ist hässlich und anstössig, Filme mit- und gegeneinander zu verrechnen. Aber da weder Fördervolumen noch Sendermittel steigen, bedroht die Tendenz zum „Großfilm” die Vielfalt. Alle Filme von Christian Petzold zusammengenommen haben zum Beispiel soviel wie ein KRABAT gekostet (10 Millionen). Oder anders ausgedrückt: ein KRABAT hat - mindestens für die betreffende Fördersaison - acht andere Filme verhindert. Auch wenn der Film erfolgreich ist und Geld zurück bringt, hat er die Möglichkeiten der anderen extrem verengt."

    Geht denn die Behauptung auf? Zum einen bekam “Krabat” keine 10 Millionen an Fördermitteln, sondern “nur” etwa die Hälfte davon (siehe Marco Kreuzpaintners Kommentar auf der gleichen Seite). Und zum anderen: Bedeutet ein Dutzend Dramen weniger und dafür zwei drei Genrefilme mehr im Jahr wirklich einen Verlust an Vielfalt? Wirklich?

    Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, es riecht jedoch nach einer Milchmädchenrechnung. Und zeigt nochmals die Nachteile des Filmfördersystems: Die Behörden versuchen so viele “gesellschaftlich relevante” Filme wie möglich zu produzieren, wollen ja keine “wichtige” oder “wertvolle” Message auslassen und bilden sich damit eine große thematische Vielfalt ein, die sich bei genauem Hinsehen doch eher als eine Monokultur herausstellen könnte…

    Und wenn dann doch mal ein einzelner größerer Genrefilm gefördert wird, dann hängen wieder so viele öffentliche Gelder und Stoffentwicklungsberater an dem Projekt, dass am Ende weder Mut noch Willen vorhanden ist, “echtes” Genre zu produzieren und neue Wege zu beschreiten.

    Und so sieht es eben nicht nur seit den letzten zwei Jahren aus. Das Publikum, das unbekannte Wesen, wendet sich ab. Die deutsche Filmbranche verliert zunehmend den Bodenkontakt. Manche Genres oder Genrefilme scheinen sogar selbst den Fachexperten der FFA so fremdartig zu sein, dass man u.a. auf die kreative Idee kommt, James Camerons SciFi-Action-Epos “Avatar” unter “Animation/Zeichentrick” einzusortieren… (ich vermute, der Film wurde mit “Avatar – The Last Airbender” verwechselt, der auf der Zeichentrickserie basiert, wobei das letztlich ebenfalls ein Spielfilm war…)