In Teil 1 der Dark-Drama-Reihe Höllentrips aus der Postmoderne von Mark Wachholz wurden verschiedene Eigenschaften der Hauptfigur im Dark Drama und ihr Abstieg in den dunkelsten Ort der eigenen Seele beleuchtet. Im zweiten Teil stellen wir diverse Stilmittel und das Motivinventar des Genres vor, darunter die Motiventlehnung aus anderen Genres, die fragmentierte und unzuverlässige Erzählweise sowie die verstärkte Nutzung von Spiegeln, Doppelgängern und Leinwänden als Projektionsflächen des eigenen Ichs. Dann werfen wir einen Blick auf drei Subgenres von Dark Drama – den Höllentrip, den Martyriumsfilm und das lyrische Dark Drama.
Teil 1: Was ist Dark Drama – Einführung und Hauptfigur
Teil 2: Stilmittel und Spezialformen von Dark Drama
Teil 3: Dark Drama Filmgeschichte: 20er bis 50er
Teil 4: Dark Drama Filmgeschichte: 60er bis heute
Teil 5: Deep Theory und Entwicklungspotentiale von Dark Drama
Stilmittel im Dark Drama
Wie in Teil 1 beschrieben erleben die Protagonisten im Dark Drama heftige Spaltungsphantasien und Erosionen ihrer eigenen Identität. Beim Versuch, die zunehmende oder schon geschehene Zersplitterung der Psyche zu verstehen und möglichst sogar rückgängig zu machen (also zu einer neuen, ganzen Identität zurückzufinden), werden sie mit ihrem eigenen dunklen Selbst als größte antagonistische Kraft konfrontiert.
Diese internen Konflikte werden – wie in jedem Genre – auch im Dark Drama durch spezielle motivische, metaphorische und filmsprachliche Stilmittel sichtbar und verstehbar gemacht. Einige, die das Genre besonders stark konstituieren, werden im Folgenden näher beschrieben.
Motiventlehnungen aus anderen Genres
Im klassischen Drama oder Psychodrama – wie beispielsweise John Cassavetes’ A Woman Under the Influence (1974) – wird die Innenschau der aus den Fugen geratenen Psyche am sozialen Umfeld gespiegelt oder in konventionell-realistischen Lebenssituation der Figur gezeigt. Besonders eignet sich dieses Sujet auch in Komödien und Tragikomödien, deren Genre-Inventar die inneren Konflikt extrem anschaulich nach außen tragen können, zum Beispiel in As Good as It Gets (1997) oder Vincent will Meer (2010).
Gern wird sich eines gewissen Magischen Realismus’ bedient – zum Beispiel in Ron Howards A Beautiful Mind (2001), in dem die zweite Persönlichkeit des Mathematikers John Nash ebenfalls als Figur sichtbar wird. Gewisse Thriller-Elemente in dem Film weisen (ähnlich wie oben genannte komödiantische Umsetzungen) bereits darauf hin, dass Dark Drama in der Regel weitaus stärkere poetische, also sich ›ausdrückende‹ Elemente zur Hilfe nimmt, um seinen Narrativ von der zersplitternden Psyche, dem Vordringen in die eigenen Abgründe und die Konfrontation mit dem dunkelsten Ich möglichst stark sichtbar und nachfühlbar zu machen.
Dark Drama bedient sich deshalb bewusst eines impressionistischen und expressionistischen Motivinventars aus illusionistischen, surrealen, affektiven, manipulativen, also ›überwältigenden‹ Techniken, die in anderen Genres wie Horror, Thriller, Mystery, Fantasy oder Science Fiction, in etwas selteneren Fälle auch des Kriegsfilm, etabliert wurden. Gleiches gilt für Einflüsse aus dem Experimentalfilm, dem Kunstfilm bzw. der Kunst selbst, die immer danach strebt, Inneres nach Außen zu kehren und insbesondere den dunklen Aspekten der menschlichen Psyche eine Gestalt zu geben.
Zentral im Dark Drama ist, dass die genannten Genres selbst wenig bis gar nicht bespielt werden. Die fremde Genreelemente können vielmehr sogar überraschen (und dadurch mitunter stärkere Wirkmacht erzeugen), weil sie unerwartet ins klassische Drama oder Psychodrama ›einfallen‹. Der Zuschauer soll sie vornehmlich auf einer allegorischen Ebene entschlüsseln und nicht durch Rationalisierung in der Erzählwelt.
Einige Beispiele: Roman Polanskis Dark-Drama-Schocker Repulsion (1965) und Der Mieter (1976) bedienen sich ebenso stark der Motive des Horrorfilms wie Possession, Vinyan oder Black Swan, obwohl keiner dieser Filme ein Horrorfilm ist und auch nicht sein will. Sie interessieren sich stattdessen für die stetig destabilisierenden Psychen ihrer Hauptfiguren und erzählen dies mit Stilmitteln des Horrorfilms. Lars von Trier beginnt seine Eröffnungssequenz in Antichrist (2009) im Neo-Noir-Style und bedient sich später Elementen des Torture Porn, um die Entfremdung des Paares zueinander zu illustrieren.
Gleiches gilt für die Fantasy-Motive in Guillermo del Toros Pans Labyrinth (2006). Wer bei Valhalla Rising (2009) von Nicolas Winding Refn einen klassischen Wikinger-Abenteuerfilm erwartet, wird ebenso enttäuscht wie Freunde des klassischen Rachethrillers, die sich auf den komplexen und poetischen Sympathy for Lady Vengeance einlassen. Donnie Darko spielt mit dem Element von Zeitreisen, Wurmlöchern und Weltuntergang, ist aber ebenso kein Science-Fiction-Film wie Eternal Sunshine of the Spotless Mind, trotz einer futuristischer Technik zur Gedächtnisauslöschung.
Auch ein Klassiker wie Vertigo kann deutlich stringenter kategorisiert werden: Der Film erweckt mit seinem Hinweisen auf Verstorbene und Geister (der deutschen Zusatztitel ist sogar »Aus dem Reich der Toten«) und einem farbigen Film-Noir-Einschlag inklusive seelisch traumatisiertem männlichen Ermittler und verführerischer Femme Fatale solange falsche Genre-Erwartungen, bis man in den seelischen Abgründen der Hauptfigur und dem prominenten Doppelgänger-Motiv einen frühen Vertreter des Dark Drama erkennt.
Besonders auffällig ist die Entlehnung von Genre-Motiven in Jacob’s Ladder: Dort wird sich nacheinander des Kriegsfilms, des Horrorfilms und schließlich sogar des Paranoia-Thrillers bedient, um den Wahnsinn in Jacobs Suche nach sich selbst zu veranschaulichen.
Der Genre-Mix und der Umstand, dass Dark Drama diese Genres selbst nicht vordergründig bedient, hat die bisherige Genre-Zuweisung solcher Filme schwierig gemacht. Bislang wurde sich oft mit (nie kategorisch bestimmten) Hybridbezeichnungen wie »Psychodrama«, »Horrordrama«, »Mysterydrama« oder »Mindfuck« beholfen, wenn nicht gleich Kombinationen mehrerer dieser Genres wie »Horrorthriller«, »Psychohorror« oder dergleichen erfolgten – manchmal mit absurden Kombinationen. So wurde beispielsweise Upstream Color als »verstörendes, rauschhaft rasantes Zombie-Horror-Mystery-Thrillerdrama« bezeichnet (was viel, aber nicht notwendigerweise viel Zutreffendes über diesen Film sagt).
Auch David Lynchs Eraserhead (1977) konnte trotz seines erkennbar experimentellen Charakters bislang nur umständlich kategorisiert werden. So heißt es auf Wikipedia: »Der Film wird den Genres Horrorfilm, phantastischer, surrealistischer sowie Punk- und Science-Fiction-Film zugeordnet. Eraserhead wird auch als ›completely sui generis‹ bezeichnet, d. h. als Film, der ganz für sich steht und zu keinem spezifischen Genre passt.« Die Ursache liegt in den vielen unterschiedlichen Genre-Entlehnungen, ohne dass der Film eines der Genres konkret bedient.
Hier zeigt sich im Übrigen auch noch einmal deutlich, dass Genres nicht nur deskriptiv anhand ihrer Motivinventars, sondern auch hermeneutisch anhand ihrer sinnstiftenden Narrative definiert werden müssen.
Anmerkung: Wegen der Genre-Entlehnungen gehört Dark Drama mit in den Kreis der Genrefilme und kann auch zum »Performativen Film« nach Marcus Stiglegger gezählt werden, auch wenn es durch seinen Fokus auf Innenwelten dem Drama eng verwandt bleibt (es teilt mit dem Psychodrama ähnliche Narrative, aber ein anderes Motivinventar) bzw. eine Brücke zwischen dem klassischen Drama und dem Bereich der Genrefilme schlägt.
Fragmentierung der Erzählung
Dark Drama weist eine starke Tendenz zu einer Fragmentierung im Erzählfluss auf – weil sich die Zersplitterung von Psyche und Identität in die Erzählstruktur des Films selbst einschreibt. Diese Fragmentierung zeigt sich nicht nur im Spiel mit achronologischen Anordnungen des Plots (durch Flashbacks, Vorausblicke oder einer Umkehrung der Erzählrichtung), sondern auch im Vermischen verschiedener, parallel laufender Plotlines und Ereignisse und dem Auslassen von klassisch sonst miterzählten Sequenzen.
Sympathy for Lady Vengeance erzählt in wild vermischten Rückblenden, Filme wie Memento und Irréversible sind stellenweise oder ganz rückwärts erzählt, während David Lynchs Lost Highway (1997), Donnie Darko oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind auf kreisartigen Erzählstrukturen basieren. Mulholland Dr. ist ein zersplittertes Traumpuzzle, in denen die zeitlichen Abläufe zum Teil gar nicht mehr bestimmbar sind.
Das heißt aber nicht, dass jeder Film des Dark Drama extrem nicht-linear erzählt wäre. Eine Fragmentierung kann sich auch darin äußern, dass sonst klassisch miterzählte Sequenzen, Szenenübergänge und dergleichen wegfallen und mehr in abgehackten Blöcken und Einzelteilen erzählt wird, die die Orientierung des Zuschauers – trotz grundsätzlicher Linearität – erschweren. So sind auch Filme wie Black Swan oder Enter the Void auffällig fragmentiert und wirken (in letztgenanntem Film z.B. auch durch atmosphärisch stark unterschiedliche Szenen) teilweise ›zerhackt‹, auch wenn sie weitgehend auf zeitlich Zerrüttungen verzichten.
Extrem fragmentiert ist die Erzählung in Upstream Color, das so gut wie keinen gängigen narrativen Mustern mehr folgt, mehrere fast nur noch assoziativ verknüpfte Erzählstränge aufweist und das Verdichten von Narration auf flashartige Szenen auf die Spitze treibt. Regisseur Shane Carruth hatte bereits bei seinem Erstlingswerk Primer (2004) eine in sich extrem verwirbelte und scheinbar nicht mehr aufzulösende Ereigniskette inszeniert.
Unzuverlässiger Erzähler
Neben der Fragmentierung der Narration wird Dark Drama oft stark durch einen unzuverlässigen Erzähler bestimmt, dem unreliable narrator, wie er in den 60ern in der Literaturwissenschaft definiert wurde: Wir als Rezipienten können nicht mehr zwangsläufig dem trauen, was uns die Erzählung präsentiert. Wir müssen daran zweifeln, dass das, was wir wahrnehmen, überhaupt der Wahrheit entspricht und vielmehr davon ausgehen, eine höchst subjektive, mit einiger Wahrscheinlichkeit auch gestörte Wahrnehmung des personalen Erzählers zu erfahren. Generell lässt sich über die Unzuverlässigkeit viel über die Wirkung von Chaos erzählen, einem der thematischen Hauptelemente des Dark Drama.
Die unzuverlässige Erzählung zeigt sich beispielsweise deutlich in den Realitäts- und Identitätsverschiebungen, die die Hauptfiguren in Persona, Perfect Blue, Donnie Darko oder Black Swan plagen, in der aus Alp- oder Tagtraumbildern gespeisten Narration in Possession, Jacob’s Ladder, Mulholland Dr., Sympathy for Lady Vengeance, Pans Labyrinth oder Vinyan oder in den tatsächlichen Erinnerungsleiden der Protagonisten von Filmen wie Jacob’s Ladder, Memento oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind. Gleich zu Beginn von Die Wand schreibt die namenlose Ich-Erzählerin in ihr Tagebuch, dass ihre Notizen nicht zuverlässig seien, da sie sich nicht mehr an alles erinnern kann und einiges vielleicht auch ganz anders geschehen sein mag. Da der Film aber dann selbst keine Brüche zeigt, bleibt die Unzuverlässigkeit letztendlich behauptet, da nur das ausweglose Ende erahnen ließe, dass die Idylle und der Selbstfindungsprozess, den sie in der Einsamkeit durchlebt hat, in der Form gar nicht stattgefunden haben.
Schlaf und Traum
Träume sind der Weg in unser Unterbewusstsein. Weil Dark Drama den Protagonisten genau dorthin schickt und Brüche in der Realitätswahrnehmung über Traum- oder Alptraumzustände besonders unzuverlässig erzählt werden können, finden sich die Figuren im Dark Drama häufig müde, schlafend oder träumend wieder.
Jacob’s Lader beginnt mit schlafenden Soldaten. Im Verlauf des Films begegnen dem Zuschauer immer wieder schlafende, müde oder aufwachende Figuren. Jacob selbst wacht mehrmals in neuen Realitäten auf, was die Frage aufwirft, was von dem, was wir sehen, Realität und was nur Traum war. Auch in Filmen Donnie Darko und Ingmar Bergmans Das siebente Siegel (1957) müssen Figuren zu Beginn des Films erst einmal erwachen.
In Filmen wie Perfect Blue, Die Wand oder Vinyan haben die Figuren immer wieder Probleme, ihre Träume – und Alpträume – von der Realität zu unterscheiden oder werden von besonders eindringlichen Alpträumen geplagt. Der Hauptfigur Mima in Perfect Blue wird sogar geraten: »You should stop dreaming soon.« Auch die psychedelische Vorspann-Sequenz in Vertigo zeigt, dass uns der Film in einen (Alp)Traum hineinziehen will, während sich ganze zwei Drittel von Mulholland Dr. als ein einziger Alptraum entpuppen.
Bereits in den Vorahnen des Dark Drama in der Stummfilmzeit findet sich das Motiv des Schlafens und Träumens zur Vertiefung und Sichtbarmachung psychologischer Störungen. Auf Grundlage der Theorien Sigmund Freuds lässt beispielsweise Georg Wilhelm Pabst seine Hauptfigur in Geheimnisse einer Seele (1926) Träume des Wahnsinns erleben, die erst ein geschulter Psychologe aufklären und ihn somit am Ende heilen kann.
Drogen und bewusstseinserweiternde Substanzen
Als eine weitere Möglichkeit, narrative Unzuverlässigkeit zu steigern, finden sich im Dark Drama neben Schlaf, Träumen und Visionen bewusstseinserweiternde Substanzen aller Art, die die Wahrnehmung der Hauptfiguren und damit auch des Zuschauers beeinflussen.
So können einige harte und experimentell ausgestaltete Drogenfilme wie Requiem for a Dream oder Hans Weingartners und Tobias Amanns Das weiße Rauschen (2000) dem Dark Drama zugeordnet werden, ganz zu schweigen von Enter the Void, der aus einem Drogentrip eine metaphysische Reise über die Grenzen unserer Existenz hinaus macht. In Jacob’s Ladder steht die titelgebende »Ladder« für eine spezielle chemische Droge, die die wahre Ursache für den Zustand des Protagonisten zu sein scheint. Und in Upstream Color zerstört eine mysteriöse, von Würmern versetzte Substanz gleich zu Beginn die bisherige Identität und Willensfreiheit der Protagonistin. Auch ›klassische‹ Dark-Drama-Filme benutzen Drogen als Erzählwerkzeuge – wenn sich z.B. Nina in Black Swan in eine Partynacht mit Alkohol und Pillen stürzt und am nächsten Morgen nicht mehr weiß, ob die erotische Verführung durch ihre Konkurrentin nur Einbildung war.
Manchmal deutet schon die reine Anwesenheit von Drogen und Rauschmitteln metaphorisch auf die subjektive, personale Ausrichtung der Narration hin – wie in Bedevilled das Bozo-Kraut und der Versuch, die Hauptfigur zu betäuben und zu vergewaltigen, oder wenn in Apocalypse Now nicht nur die Gefolgschaft um den in den Wahnsinn driftenden Colonel Kurtz im täglichen Drogenrausch lebt, sondern auch der Erzähler und Protagonist Captain Willard bereits zu Beginn vollgepumpt mit Alkohol und Drogen vorgestellt wird.
Träume, Visionen und bewusstseinserweiternde Drogen beeinflussen die Wahrnehmung der Hauptfigur, erzeugen für den Zuschauer eine unzuverlässige Erzählperspektive und können den Erzählfluss des Films fragmentieren. Doch zum einen sind das alles subjektive Techniken, von denen sich der Zuschauer auch schnell distanzieren kann. Zum anderen ist Film selbst bereits der Traum und ›Trip‹, den der Zuschauer erlebt, sodass die Wirkung von Alpträumen, Drogenvisionen und anderen subjektiven Erfahrungen der Hauptfigur schnell als Dopplung und Schwächung der Diegese (der von der Geschichte erzählten Welt) empfunden werden kann.
Spiegel und Doppelgänger
Das Motiv des (insbesondere zerbrochenen, zerschlagenen oder halb angeschnittenen) Spiegels gehört zum festen Filmsprache-Inventar, weshalb seine – durchaus häufige – Verwendung im Dark Drama keine Besonderheit des Genres darstellt, auch wenn es immer noch die klarste und effizienteste Möglichkeit ist, zersplitterter Identitäten visuell zu markieren.
Eine weitere klassische Form der Spiegelung ist das Doppelgänger-Motiv. Dieses lässt sich erstmals in der Schwarzen Romantik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts im europäischen Literaturkanon prominent nachweisen lässt, allem voran in den Werken von E.T.A. Hoffmann. Im Dark Drama ist der Doppelgänger kontinuierlich von den Anfängen des Genres bis heute vorzufinden. Diverse Beispiele dazu finden sich im Kapitel Eine kurze Geschichte des Dark Drama, der morgen erscheint, in den Abschnitten Hysterische Männer in der Weimarer Phantastik, den Ausführungen zum Film Noir und Filmen wie Vertigo, Possession, Perfect Blue, Mulholland Dr. oder Black Swan.
Anders als der Spiegel, der immer noch eine innere Reflektion der Psyche der Hauptfigur ist, gibt ein realer oder surrealer Doppelgänger dem eigenen antagonistischen Ich, des Fremden in einem Selbst eine konkrete, äußere Gestalt (siehe Du bist dein eigener Feind in Teil 1). In der klassischen Form trägt der Doppelgänger das gleiche Gesicht wie der Protagonist – er ist ein physischer Zwilling und erhöht so das Gefühl von Spaltung und Irrealität. Trotz der tiefen menschlichen Sehnsucht, nicht allein sein zu wollen, ist es ein grundsätzlich verstörender Gedanke, um seine Individualität beraubt zu werden. Ebenso werden Doppelgänger-Figuren aber auch als nicht-identische Repräsentanten der Hauptfigur inszeniert – man denke nur an den namenlosen Erzähler und sein Alter Ego Tyler Durden in Fight Club oder die komplett ausgetauschte Identität des Protagonisten in Lost Highway.
Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, das dunkle Ich, die alternierende Identität im Dark Drama zu visualisieren, zu manifestieren – letztendlich also zu projizieren.
Leinwände und Bühnen als Projektionsflächen
Donnie sitzt in Donnie Darko in einem Kino, als sich plötzlich die Realität auflöst und er dem verkleideten Hasen aus seinen Träumen begegnet. Ninas Schwarzer Schwan, ihr abgründiges Ich, wird von ihr in Black Swan auf einer Ballettbühne zum dunklen Leben erweckt. Mima in Perfect Blue kommt als Pop-Idol von einer Bühne und tritt in die Welt des Films, in der sich bald die Szenen aus der Thriller-Serie, in der sie mitspielt, mit den Dreharbeiten und ihrem realen Leben außerhalb des Drehs zu vermischen beginnen. Ihr geisterhaftes Ich wiederum will zurück auf die große Bühne und sie in ihrer ehemaligen Band ersetzen. In Possession schaut sich Hauptfigur Mark alte Filmaufnahmen seiner zunehmend verrückter werdenden Frau an, die nun über Leinwand und Projektor mit ihm redet. Schon da ist zu erkennen, dass der Wahnsinn bereits lange in ihr zu stecken scheint. In Peeping Tom betrachtet der Killer Mark per Projektor seine Morde.
Kino, Filmleinwand, Theater- oder Ballettbühnen sind im Dark Drama Orte der eigenen Projektion und damit des Versuchs, sich selbst von außen zu betrachten, sich von sich selbst zu distanzieren (oder von sich selbst distanziert zu sein), um die sonst unsichtbare, nicht fassbare dunkle Seite der eigenen Identität erspähen zu können oder zu müssen. Die Projektion des eigenen Ichs wird im Dark Drama gern beim Wort genommen und in die Filmrealität ausgelagert.
Sehr früh hat bereits Ingmar Bergman in Persona die Doppelbödigkeit des Mediums Films als Ausdruck der Identitätsspaltung und -vermischung genutzt: Gleich zu Beginn werden wir durch einen Jungen, der mit seiner Hand die Umrisse einer Frau auf einer Leinwand zu berühren versucht, auf die Metaebene des Films geführt. Im weiteren Verlauf zeigt der Film Risse, so wie die Identität der Krankenschwester Alma immer mehr Risse bekommt. Noch früher hat damit Arthur Robison in Schatten – Eine nächtliche Halluzination (1923) gespielt. In dem hysterisch-düsteren Liebesdrama führt ein Geschichtenerzähler adligen Gästen ein Schattenspiel vor, in das plötzlich sie selbst und ihre wahnhaften Eifersüchte projiziert werden.
Hyperkonsequenz
Der Seelentrip im Dark Drama erfolgt meist in bemerkenswerter Hyperkonsequenz. Viele der Filme gelten als auf die ein oder andere Art als ›krass‹, unerbittlich oder extrem. Das kann sich zum einen in besonders extremen Inszenierungen zeigen: In Irréversible erleben wir nicht nur zu Beginn eine der exzessivsten Gewaltszenen der Filmgeschichte, sondern später auch eine neunminütige ungeschnittene Vergewaltigung und brutale Misshandlung der Hauptfigur Alex. Nicolas Winding Refn macht in Valhalla Rising (2009) einen stummen und gleichzeitig entfesselten Mads Mikkelsen zu seiner Hauptfigur und schickt ihn auf einen lyrisch-existenziellen Selbstfindungstrip, Sympathy for Lady Vengeance findet seinen Höhepunkt in einer extrem langen, minutiösen Sezierung der Rache von acht Eltern an dem Mörder ihrer Kinder.
Vor allem aber konstituiert die hyperkonsequente Narration Dark Drama entscheidend: Um ihren Traum von einer perfekten Ballerina zu verwirklichen, ist Nina in Black Swan nicht nur bereit, sich ihrer dunklen Seite (dem Schwarzen Schwan, der sich in zunehmendem Wahnsinn und Realitätsverlust manifestiert) hinzugeben, sondern am Ende auch physisch zu sterben. Auch die Protagonisten in so unterschiedlichen Filmen wie Repulsion, Persona, Aguirre, der Zorn Gottes, Don’t Look Now, Possession, Jacob’s Ladder, Fight Club, Requiem for a Dream, Donnie Darko, Mulholland Dr., Pans Labyrinth, Vinyan oder Die Wand haben kein gutes Ende zu erwarten. In Primer werden Protagonist und Zuschauer in einer nicht mehr aufzulösenden Zeitverwirrung zurückgelassen. Der dunkelste Ort der Seele (siehe Teil 1) heißt nicht umsonst so, der Blick in den Nietzsches Abgrund geht im Dark Drama oft so tief, dass der Abgrund auch für immer zurückblickt.
Der Wunsch, unsere Zeit wieder verstehbar zu machen, auch wenn sie nicht immer komplett verstehbar ist und auch nicht immer ›schön‹ oder ›gut‹, sondern im Gegenteil oft tatsächlich ›krass‹, erfordert auch in der Reflexion genau diese Krassheit, Unerbittlichkeit, Hyperkonsequenz. Wir müssen sie akzeptieren und verstehen, um anerkennen zu können, dass sie uns etwas über die Welt sagt. Aus diesem Grund müssen Dark-Drama-Filme so krass, unerbittlich und hyperkonsequent sein, wie sie es sind.
Spezialformen des Dark Drama
Die im Folgenden beschriebenen speziellen Ausprägungen des Dark Drama sind nicht als jeweils ausschließlich und alleinstehend zu betrachten, sondern stellen Tendenzen innerhalb des Genres dar, die sich überschneiden und ergänzen können. Es handelt sich dabei um erste Zuordnungen, eine weitere Ausdifferenzierung einzelner Spielarten kann erfolgen.
Höllentrips
Wie im Abschnitt Der dunkelste Ort der Seele in Teil 1 beschrieben, führt Dark Drama den Zuschauer auf eine extreme Reise in die Abgründe der menschlichen Seele – hinab zum ›Heart of Darkness‹. Wenn diese Reisen von tatsächlicher physischer, existenzieller Natur sind, wie zum Beispiel in Valhalla Rising, lässt sich von Höllentrips reden. Oft mit Motiven des Abenteuer- oder Kriegsfilms ausgestattet war in den 70er Jahren eine erste Häufung dieser Stoffe zu beobachten, angefangen mit Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes und John Boormans Deliverance (1972). Es folgten düstere, existenzielle Vietnamdramen wie Michael Ciminos The Deer Hunter (1978) (der in Deutschland den Verleihtitel Die durch die Hölle gehen erhielt) und der Höllentrip-Meilenstein Apocalypse Now von Francis Ford Coppola. Beide Filme verweigern sich klassischen Kriegsfilm-Narrativen und sind eher am Wahnsinn des Menschen im Chaos des Kriegs interessiert.
Ein weiteres Beispiel für einen Höllentrip ist der von Apocalypse Now inspirierte und mit Horrorelementen spielende Vinyan, in dem sich ein Paar auf der Suche nach seinem während der Tsunami-Katastrophe verschwundenen Sohn erst im burmesischen Dschungel und dann im Wahnsinn der eigenen Psyche verliert. Sowieso sind Dschungel ein passender Ort für menschenfeindliches Chaos und die Dunkelheit der eigenen Seele. So auch in Van Diemen’s Land (2009) von Jonathan auf der Heide: Acht Schwerverbrecher durchqueren 1822 während ihrer Flucht die australische Wildnis. Überleben wird nur, wer jede Menschlichkeit hinter sich lässt.
Eher aus dem Horror- und Science-Fiction-Inventar bediente sich Ken Russels Altered States (1980) über einen Wissenschaftler, der mit Hilfe von bewusstseinserweiternden Drogen in die Urgründe der menschlichen Psyche dringt (und in Deutschland unter dem passenden Verleihtitel Der Höllentrip lief). Ein ähnliches Terrain betritt auch Enter the Void.
Martyriumsfilm
Höllentrips stehen nicht selten im Zusammenhang mit einer weiteren Variante des Dark Drama, in denen Protagonisten meist unverschuldet ein geradezu unentrinnbares Schicksal oder (selbst bei eigener Schuld) übermenschliche Bestrafung und Qual erleiden, die sich in einem psychischen und auch physischen Martyrium in besonders extremer und expliziter Form äußert. Diese Schicksalhaftigkeit kann aus einem unvermittelten äußeren Impuls heraus entstehen (Entführung, Gewalttat, Tod eines Familienmitglieds, unvermittelte Notlage), wie in den koreanischen Rachedramen Sympathy for Mr. Vengeance (2002) oder Bedevilled, in Michael Hanekes Funny Games (1997) oder zeitgenössisch in den Gefangenschaften junger Entführungsopfer wie in Jennifer Lynchs Chained (2012), Megan Griffiths Eden (2012) oder Paul Hyetts The Seasoning House (2012).
Drogen- und Wahndramen scheinen die Quintessenz von Dark Drama darzustellen, da sie psychische Zerrüttung sehr extrem schildern: Lost Highway, Mulholland Dr. oder Das weiße Rauschen können hier genannt werden, und allen voran Darren Aronofskys Junkie-Alptraum Requiem for a Dream. Psychisches Martyrium erleiden auch die Protagonisten von Filmen wie Lars von Triers Dancer in the Dark (2000), dessen illusionistische Effekte dem Musical-Genre entnommen werden, oder Brad Andersons The Machinist (2004). Aus dem Experimentalfilmbereich schildern auch frühe Dark-Drama-Filme ungewöhnliche Leidenswege – ob wie in David Lynchs Eraserhead (1977) die Geburt eines abnormen Kindes oder in Shin’ya Tsukamotos Tetsuo (1989) und seiner Fortsetzung Tetsuo II: Body Hammer (1992) die schrittweise Transformation eines Menschen in ein Metallwesen.
Es ließe sich argumentieren, ob frühe Folterfilme aus dem Eurotrash-Exploitation der 70er (z.B. Women-in-Prison-Filme wie Jesús Francos Der heiße Tod (1969) oder Frauen für Zellenblock 9 (1978)) oder provokante Kunst-Klassiker wie Pier Paolo Pasolinis Die 120 Tage von Sodom (1975) Ahnen des Dark-Drama-Martyriumsfilms sind. Eher sind sie aber Vorgänger des Torture-Porn-Genres, das wiederum als Subgenre dem Horrorfilm zugeordnet wird, wenngleich sich gute Argumente finden lassen, dass Torture Porn Elemente des Dark Drama bespielt, indem die Zersplitterung der Psyche über eine Zerstückelung des Körpers erzählt wird. Irréversible und Antichrist sind dabei dem Dark Drama zuzuordnen und entlehnen sich nur Motiven des Torture-Porn-Horrors. Filme wie Mel Gibsons The Passion of the Christ (2004) oder Pascal Laugiers Martyrs (2008) können dabei als Brückenfilme zwischen Torture Porn und Dark Drama identifiziert werden.
Exkurs Schicksalsdramen: Wie der Martyriumsfilm des Dark Drama bespielen klassische Schicksalsdramen Figuren mit einem besonders großen Leid, widmen sich zum einen aber mehr der daraus folgenden Bürde und dem persönlichen, sozialen oder gesellschaftlichem Drama und übernehmen zum anderen filmisch oder narrativ keine illusionistischen Elemente aus (phantastischen oder performativen) Genres. Klassische Schicksalsdramen wie Broken Blossoms (1919), They Shoot Horses, Don’t They? (1969), Sophie’s Choice (1982), The Remains of the Day (1993) oder Das Leben ist schön (1997) zeigen die Zerrüttungen eher in Dialogen, Beziehungskonstellationen und situativen Alltagskontexten und sind deshalb nicht dem Dark Drama zuzuordnen. Die letzten Glühwürmchen (1988) ist hier auch zuzurechnen, auch wenn es am Anfang und am Ende leicht surreale Momente hat, die aber mehr als emotionale Klammer dienen.
Lyrisches Dark Drama
Das Eintauchen in die menschliche Psyche hat auch immer eine Analogie zum Sich-Verlieren im Kosmisch-Göttlichen, da der Trip in den Abgrund der Seele auch immer eine spirituell-kosmische Annäherung des Menschseins an sich beinhält. Dies erklärt die starke Affinität des Dark Drama zum Lyrischen. So spielen schon in den 70ern Filme wie Don’t Look Now und Peter Weirs Picnic at Hanging Rock (1975) mit der sensiblen Seite von Mystery und Horror, deren Offenbarung bis zum Ende hin nur wenig oder gar nicht erfolgt.
Eine weitere Spielart des lyrischen Dark Drama sind Filme, die mit Motiven aus Genrestoffe spielen, diesen jedoch tendenziell einen bittersüßen, lyrisch-versöhnlichen Gesamtcharakter verleihen, im Endeffekt also poetische Genre-Dramen sind. Beispiele wären Rolf de Heers schräge Forrest-Gump-Verzerrung Bad Boy Bubby (1993), Peter Jacksons Coming-of-Age-Fantasydrama Heavenly Creatures (1994), David Mackenzies gefühlvolle Apokalypse in Perfect Sense (2011), Geoffrey Fletchers Teenage-Killer-Drama Violet & Daisy (2011) oder Park Chan-wooks Stoker (2013).
Auffällig in den letzten Jahren ist eine Zunahme von Ensemble-Dramen ohne konkrete Hauptfigur. In diesen Filmen scheint die fragmentierte Psyche des Einzelnen auf eine ganze Gruppe von Figuren aufgesplittet zu werden, um sie dann einem unpersönlichen Göttlich-Kosmisch-Unfassbaren als Ausdruck der conditio humana (der schicksalhaften, unabänderlichen menschlichen Grundverfassung) gegenüberzustellen. Zu diesen Filmen gehören zum Beispiel Michael Hanekes Das weiße Band (2009), Huan Vus Die Farbe (2010), Steven Soderberghs Contagion (2011), Lars von Triers Melancholia (2011) oder Terrence Malicks The Tree of Life (2011). Als Vorläufer dieser Strömung könnte Bergmans Das siebente Siegel gelten.
Bei diesen Filmen scheint es Überschneidungen mit Roland Zags Systemischer Filmdramaturgie zu geben, die dieser im November 2012 auf der FilmStoffEntwicklung in Berlin vorstellte. Er sprach dabei über eine aktuell beobachtete Zunahme von – beim Publikum erfolgreichen – Filmen, die ihren Narrativ nicht mehr über den Grundkonflikt Protagonist vs. Gemeinschaft (Ich vs. Wir) entwickeln, sondern die Gemeinschaft gegen schicksalhafte, kosmische Prinzipien und Zustände stellen (Wir vs. Es). Diese Filme bespielen den starken Antagonismus großer gegenläufiger Prinzipien (»Systeme«), setzen deshalb in ihrem dramaturgischen Aufbau mehr auf systemische soziale Netze und Figuren-Gruppen statt auf Empathie für einzelne Hauptfiguren und – sehr interessant – kommen nach Roland Zag sehr oft als »Genre-Amalgame« daher, d.h. ergänzen ihr Drama oft durch fremde Filmgenres, auffällig oft sogar durch klassische Genrefilme wie beispielsweise Mystery (Das weiße Band), Science Fiction und Horror (Die Farbe) und Apokalypse durch Epidemien oder Kometen (wie bei Contagion oder Melancholia).
Teil 3: Eine kurze Filmgeschichte des Dark Drama: 1920er-1950er ist der erste von zwei Blöcken über die Entwicklung des Genres von seinen ersten Protoformen in der Stummfilmzeit bis zu den Einflüssen durch den amerikanischen Film Noir.