1. Seelenabgründe und Thriller auf dem Filmfest München

    28.06.2014 ///

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    Ein Hotelzimmer als Schauplatz einer zerbrechenden Wahrheit. Eine außer Kontrolle geratende SEK-Einheit auf einem eskalierenden Rachefeldzug. Ein Psychiater, der in den Träumen eines Patienten auf düstere Verbrechen stößt. Und ein Tatort-Kommissar inmitten eines blutigen Vergeltungsplans. Auf dem 32. Filmfest München werden Erinnerungen und Identität in deutschen Thrillern nachhaltig erschüttert.

    Man kann sie mal wieder leicht im diesjährigen Programm des Filmfests München (27.06. bis 05.07.) übersehen – jene deutschen Filme, die den Zuschauer jenseits von Klamauk, Gesellschaftsmelodram, Dritte-Welt-Studie, hiesigem Alltagsdrama, Krimi-Standardkost, historischer Authentizität und amateurischem Kunstfilm in packender Inszenierung in abgründige Strudel zu reißen versuchen, aus denen er sich genauso schwer befreien vermag wie die von körperlichen und seelischen Qualen gepeinigten Protagonisten. Film als Erlebnisreise in dunkle Welten, als Überwältigungstrip mit ungewissem Ausgang – das ist hierzulande weiterhin Mangelware.

    Vier deutsche Produktionen auf dem aktuellen Filmfest München lassen – wie schon beider diesjährigen Genre-Explosion auf Berlinale und Genrenale im Februar – auf ein paar sehenswerte Ausnahmen hoffen.

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    Wir waren Könige (D 2014)

    Vor zwei Jahren warf des italienische Crime-Drama ACAB: All Cops Are Bastards (2012) einen düsteren, zerrütteten Blick auf die Mitglieder einer Einheit der Bereitschaftspolizei (“riot police”) in Rom. Jetzt präsentiert das Filmfest München mit Wir waren Könige ein hartgesottenes deutsches Crimedrama um die Mitglieder einer SEK-Einheit, die nach einem desaströsen Einsatz mit zwei Toten auf Rache sinnen – ohne Rücksicht auf das Gesetz.

    Regisseur und Autor Philipp Leinemann hat für seinen düsteren Film ein illustres Schauspieler-Ensemble zusammengerufen. Angeführt wird die SEK-Einheit von Ronald Zehrfeld, nicht zuletzt bekannt aus Dominik Grafs Milieu-Krimi-Serie Im Angesicht des Verbrechens (2010) und TV-Krimithrillern wie Das unsichtbare Mädchen (2011) und Mord in Eberswalde (2013), und Mišel Matičević, der ebenfalls in Im Angesicht des Verbrechens prominent besetzt war, jedoch seinen vielleicht besten Genre-Eintrag in der zu Unrecht gefloppten SAT.1-Miniserie Blackout – Die Erinnerung ist tödlich (2006) hatte.

    Das Programmheft vom Münchener Filmfest verspricht für den mit ZDF/arte koproduzierten Wir waren Könige eine “blinde Hetzjagd” und einen Film, “in dem die sonst so klar gezeichneten Grenzen zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch sich in einer Grauzone auflösen.” Gestellt wird die Frage, was stärker wiegt: Freundschaft und Loyalität innerhalb einer heterogenen Gemeinschaft oder die moralische Verantwortung dieser Repräsentanten gesellschaftlicher Ordnung. Wenn schließlich der Kampf zwischen Polizisten und jugendlichen Kriminellen außer Kontrolle gerät, bleiben für den Zuschauer mit großer Wahrscheinlichkeit keine einfachen Antworten übrig.

    Wir waren Könige | Crime-Thrillerdrama
    SA 28.06. | 19:30 Uhr | ARRI Kino
    MO 30.06. | 20:00 Uhr | HFF AudimaxX
    MI 02.07. | 12:15 Uhr | City 2
    FR 04.07. | 22:30 Uhr | ARRI Kino

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    Das Hotelzimmer (D 2014)

    Das Setup ist so einfach wie verführerisch: Ein erfolgloser Dokumentarfilmer bittet eine erfolgreiche Autorin um ein Interview in einem Hotelzimmer. Mehr braucht Regisseur und Autor Rudi Gaul für seinen Film Das Hotelzimmer nach dem unveröffentlichten Roman von Agnes Lehner nicht. Es ist dieser eine Raum, in dem sich in einer einzigen langen Nacht ein Psychoduell um diese beiden Protagonisten entspinnt.

    Closed-Room-Thriller wie Open Water (2003), Buried (2010) oder No Turning Back (2013) sind seit Jahren international erfolgreich – nicht nur, weil sie bei guter Idee und guter Umsetzung mit wenigen Mitteln produziert werden können. Ihre große Kraft liegt darin, innere Seelenzustände und Konflikte in einer einzigen Situation zu verdichten und Filmemacher zu großem Facettenreichtum herauszufordern. Das Hotelzimmer ist dabei mehr ein packendes psychologisches Thrillerdrama oder Dark Drama in der Tradition von Romuald Karmakars Der Totmacher (1995) und bezeichnet sich selbst als “Film Noir”.

    “Wenn jede Erinnerung nur eine Geschichte ist, die wir uns wieder und wieder erzählen – wie lassen sich dann Wahrheit und Lüge noch voneinander unterscheiden?”, fragt das Programmheft des Festivals. Regisseur Rudi Gaul, Mitglied des Neuen Deutschen Genrefilms, interessieren in seinem Film Themen von Identität und Erinnerung – und deren Kontingenz, Ambiguität und Zerfall. So wird die von Mina Tander (Du hast es versprochen, 2012) gespielte Autorin Agnes von dem Dokumentarfilmer Lukas (Godehard Giese) mit der Behauptung konfrontiert, sie sei zusammen mit ihm vor über zehn Jahren an einem folgenschweren Unfall beteiligt gewesen. Doch daran kann sich die Frau in keiner Weise erinnern. Oder will sie es nur nicht? Ein gefährliches Frage-Antwort-Spiel beginnt – das mit fortschreitender Nachtstunde sicher geglaubte Lebenswelten und Identitätsentwürfe entblättert und dekonstruiert. In einer ersten Pressereaktion urteilt Deutschlandradio Kultur: “extrem beeindruckend … faszinierend, wuchtig … so in Deutschland selten zu sehen”.

    Das Hotelzimmer | Thrillerdrama
    SA 28.06. | 22:00 Uhr | ARRI Kino
    SO 29.06. | 09:30 Uhr | City 3
    DO 03.07. | 20:00 Uhr | AudimaxX
    FR 04.07. | 17:30 Uhr | HFF Kino 1

    Neben der Spur – Adrenalin (D 2014)

    Selten versprüht ein Trailer (siehe unten) für einen deutschen Krimi cineastischen Look und cineastische Dramaturgie – und schon gar nicht erwartet man das vom ZDF. Doch der Start der neuen Reihe Neben der Spur (nach Bestsellerromanen des australischen Thriller-Spezialisten Michael Robotham) mit dem Auftaktfilm Adrenalin gibt uns das pulsierende Versprechen eines richtig guten TV-Thrillers. Ob es an der Vorlage aus angelsächsischer Erzähltradition liegt oder an dem filmischen Gespür für Look und Timing des Regie-Duos Cyrill Boss und Philipp Stennert, das erste Kino-Erfahrungen mit Neues vom Wixxer (2007) und dem visuell coolen, konzeptionell aber leider verunglückten Jerry Cotton (2010) sammelten, bleibt abzuwarten.

    Neben der Spur schildert die Fälle des Hamburger Psychiathers Dr. Johannes “Joe” Jessen (Ulrich Noethen), der zusammen mit Kommissar Vincent Ruiz (Jürgen Maurer) in Fälle verwickelt wird, die tief in die Abgründe der menschlichen Seele führen. In der Auftaktfolge Adrenalin wird Jessen zu dem Fall einer grausam ermordeten Frau hinzugezogen. Der Psychiater erkennt darin erschreckende Parallelen zu Gewaltphantasien eines seiner Patienten. Ist dieser der Täter? Jessen ahnt noch nicht, dass er selbst bei den Ermittlungen Opfer eines perfiden Plans ist. Um diesen aufzudecken, muss er selbst ermitteln – und wird immer mehr in eigene seelischen Labyrinthe gezogen.

    Mit Neben der Spur könnte das ZDF von Tonalität und Thriller-Tendenz an die deutsch-österreichische Krimithriller-Reihe Spuren des Bösen um den Verhörspezialisten Richard Brock (Heino Ferch) anknüpfen, die einmal jährlich von Genre-Spezialist Andreas Prochaska (In 3 Tagen bist du tot, Das finstere Tal) inszeniert werden. Genug Stoff gibt es mit den Romanvorlagen von Michael Robotham jedenfalls: Neun Romane sind bereits erschienen. Die Verfilmung des zweiten – Amnesie – läuft derzeit in Hamburg und Lübeck.

    Neben der Spur – Adrenalin | Krimithriller
    DI 01.07. | 21:30 Uhr | Rio 1
    SA 05.07. | 15:00 Uhr | HFF Kino 1

    Tatort: Im Schmerz geboren (D 2014)

    Nicht erst seit Christian Alvarts TV-Actionern Willkommen in Hamburg (2013) und Kopfgeld (2014) mit Til Schweiger versucht man sich in Deutschlands beliebtester Krimi-Reihe an Mischformen mit anderen Genres: Die Ausstrahlung von Dror Zahavis Geisel-Thrillerdramas Franziska (2013) wurde auf 22 Uhr gelegt, Sascha Biglers Unvergessen (2013) setzte auf einen wahrnehmungsgestörten Kommissar, und in Hannu Salonens Verschleppt (2012) sind wir mitten im Genre des Entführungsthrillers. Doch in manchen Fällen bleibt es bei Experimenten mit Look und Atmosphäre – dann verharren die Genre-Stileinflüsse an der Oberfläche und ordnen sich der standardisierten Narration eines deutschen TV-Krimis unter.

    Eine besondere Stellung nehmen dabei die Tatort-Fälle des Hessischen Rundfunks mit Ulrich Tukur ein, der als Ermittler Felix Murot mitsamt Gehirntumor spätestens seit dem zweiten Fall in Justus von Dohnányis Das Dorf (2011) durch surreal-hanebüchene Plots mäandert, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie augenzwinkernde Referenz oder sinnentleerte Karikatur sein sollen – und damit den Versuch, packendes Genre im deutschen Fernsehen zu erzählen, eher der Lächerlichkeit preisgeben.

    Auf dem Filmfest München läuft nun mit Im Schmerz geboren von Florian Schwarz (Das Schneckenhaus, 2006) der nunmehr vierte Fall Murots, der mal wieder im weiteren Bekanntenkreis in einen Fall hineingezogen wird: Diesmal ist es ein alter Studienfreund, in dessen “epischer Rachefeldzug” Murot plötzlich zentrale Figur wird. Das Programmheft spricht von einem Tatort, den man so “noch nie gesehen” hat, von einer “Tragödie shakespeareschen Ausmaßes” mit am Ende um die vierzig Toten.

    Ein kurz zuvor veröffentlichter Trailer (siehe unten) für Im Schmerz geboren plündert einmal mehr die Genre-Filmgeschichte und kommt diesmal zu Beginn im Italo-Western-Style daher. Es stellt sich die Frage, ob auch hier wieder nur fanboyistisch aus der Stilkiste des Filmgeschichte herausgeklaubt wird, oder ob es Regisseur Florian Schwarz und Drehbuch-Autor Michael Proehl gelingt, Oberfläche und Erzählung zu einem düsteren Rachedrama dicht zu verweben. Mit ihrem gelobten Tatort Weil sie böse sind aus dem Jahr 2010 und der psychologischen Krimithriller-Auftakt der Reihe Hannah Mangold & Lucy Palm (2011) machen die beiden Hoffnung auf mehr.

    Fakt bleibt damit aber auch, dass deutsche Krimi-Reihen derzeit am ehesten von TV-Filmemachern genutzt werden, um ihre Genre-Affinität zumindest ansatzweise zu zeigen. Gerade in den unkonventionellen Tukur-Tatorten gäbe es die Chance, sich auch erzählerisch völlig vom Krimi-Schema abzuwenden und in die affektiven Schauwerte und psychologischen Tiefen von Genre-Geschichten einzudringen.

    Tatort: Im Schmerz geboren | Krimithriller
    SA 28.06. | 21:30 Uhr | Rio 1
    MO 30.06. | 15:00 Uhr | HFF Kino 1



    mw