1. Performanz und Seduktion

    09.07.2013 ///


    Da öfter vom „performativen Film“ nach Marcus Stiglegger die Rede war, hier nun einige Erläuterungen zur Seduktions-Theorie des Filmwissenschaftlers, welche von der bisher vorherrschenden filmtheoretischen Bewertung, Analyse und Rezeption abweicht und einen alternativen kulturellen Betrachtungsansatz anbietet:
     

    Performatives Kino im Kontext der Seduktionstheorie des Films

    Der folgende Text stellt einen filmtheoretischen Ansatz vor, der 2006 im Rahmen eines Habilitationsprojektes über seduktive Strategien filmischer Inszenierung entwickelt wurde und unterschiedliche Aspekte der Filmanalyse kombiniert, um eine neue, „ganzheitliche“ Methode bereitzustellen, sich dem Medium Film als einem wesentlichen Medium der populären Kultur zu nähern. Film wird dabei über seinen Werkcharakter hinausgehend auch als Ereignis verstanden, das auf die Sinne eines (hypothetischen) Betrachters intensiv einwirkt. Film erscheint als ein Medium der Seduktion durch „Sensation“ (Deleuze 1995), vor allem, wenn es sich von seinen narrativen Tendenzen abwendet und primär als sinnliches Ereignis wirkt und vereinnahmt. Der letzte Abschnitt zeigt, dass dies vor allem im modernen und postmodernen Körperkino mit seinen „haptischen Bildern“ der Fall ist (Marks 2002).

    Film als Verführung

    Die Seduktions-Theorie des Films (Fuery 2000: 158f.; Stiglegger 2006) geht von zwei Prämissen aus, die als elementare Eigenschaften des narrativen Kinos begriffen werden: Erstens ist Film selbst Verführung; einen Film zu sehen, bedeuten, von ihm verführt zu werden. Und zweitens bleibt Film immer ein phantomhaftes Medium, ein temporäres „Lichtspiel“ auf der Leinwand oder dem Bildschirm, das sich einem materiellen Zugriff letztlich entzieht. Der aus den Schriften von Jean Baudrillard abgeleitete Begriff der Seduktion (ursprünglich: séduction) bezeichnet Verführung in einem grundsätzlichen Sinne als Manipulation oder Suggestion, die der Filmzuschauer erfährt.

    Die filmischen Mittel und Ebenen der Seduktion im Film liegen auf der Ebene der Performanz: Bewegung, Körper, Sinnlichkeit, also u.a. Sexualität, Kampf und Choreographie. Die Performanz des Films ist jener Teil der Filmrezeption, die sich als sinnlich erfahrbare Gegenwart erleben lässt. In diesem Bereich ist das Publikum besonders anfällig für emotionale Affektreaktionen, Manipulation und Suggestion. Zudem sind sie im Bereich der Narration zu finden, als epische Erzählung oder verdeckte Mythologie. In diesem Bereich wirkt sich die Manipulation nicht immer unmittelbar aus, sondern funktioniert latent. Und schließlich liegen sie auf der ethischen Ebene, etwa indem der Zuschauer einem Ambivalenz-Erlebnis ausgesetzt wird. Um ein Ambivalenzerlebnis zu ermöglichen, können die beiden Ebenen der Performanz und der Narration instrumentalisiert werden, d.h. Ambivalenz kann sowohl sinnlich-suggestiv (wie wird erzählt?) wie auch narrativ-rational provoziert werden (was wird erzählt?).
    Das primäre Mittel dieser Feinanalyse ist die dichte Beschreibung des filmischen Zeichensystems, die durch hermeneutische Neubetrachtung jeweils verfeinert wird (z.B.: Hickethier 2007; Mikos 2008). Ziel ist es, die seduktiven Strukturen, die in der Inszenierung angelegt und (bewusst oder unbewusst) verdeckt wurden, wieder offenzulegen.

    Die erst durch eine seduktionstheoretisch fundierte Analyse verdeutlicht, wie der Film zu einem verdeckten Ziel verführt, das in der Metaebene verborgen liegt. Hier werden subtile Aspekte wie spezifische Begehrensstrukturen deutlich, die Schlüsse auf ideologische Subtexte zulassen. Das Ziel der Seduktion – wie der Verführung allgemein – ist es, den Zuschauer gegen seine vermeintlich gefestigte Position vom vertrauten Weg abzubringen.

    Der Vorzug der Seduktions-Theorie ist es, eine nicht-normative Betrachtung unterschiedlichster Filme zu begünstigen, den Erkenntnisgewinn zu maximieren und so auf lange Sicht an einer Überwindung des bürgerlich geprägten Kanon-Denkens zu arbeiten. Nationale Herkunft des Werkes, Entstehungsepoche oder generische Eigenarten stellen nur noch beachtenswerte Nebenaspekte dar, während die Analyse dem spezifischen Werk gewidmet ist und sich an dessen selbst gesetzten Intentionen orientiert. So ist mit dem Seduktionsmodell auch ein Gewinn für die Analyse marginalisierter generischer Filme (Genretheorie, porn studies [Koch 1990; Williams 1989 und 2004], cinematic body theory [Shaviro 1993; Fuery 2000; Stiglegger 2006; MacCormack 2008]) verknüpft. Ähnlich wie Patricia MacCormacks an Gilles Deleuze orientiertes Modell der „Cinesexuality“ (2008), die das Verhältnis zwischen Zuschauer und Film sexuell definiert, lassen sich auch aus der Seduktionstheorie keine allgemeingültigen Schlüsse im Sinne einer Rezeptionstheorie ziehen, wohl aber bezüglich der Erforschung von schwer oder nicht intellektualisierbaren filmischen Phänomenen: im Bereich extremer Affekte wie Lust, Ekel, Angst und Grauen. Die Seduktionstheorie ist vor allem hilfreich bei der Untersuchung eines performativen Kinos, wie es sich in der letzten Dekade in zwei Varianten ausgeprägt hat: als kommerzielles Eventkino (etwa im 3D-Kino-Bereich) oder andererseits als radikaler Schritt hin zu einem cinéma pur, wie es bereits in den 1920er Jahren von den französischen Avantgardisten gefordert wurde.

    Film als seduktive Performance

    Im vorherigen Kapitel dieses Textes wurden als Ebene der Performanz im Film Bewegung, Körper und Sinnlichkeit genannt, also Elemente, die auch in der theatralen Performance intensiv vorkommen. Diese nicht intellektualisierbaren Elemente sprechen das affektive Gedächtnis (Stanislawski 2007) des Zuschauers an und provozieren intentionale Bewegungen (z.B. Schutzimpulse bei überraschenden Bewegungseinbrüchen ins Bild), spontane emotionale Ausbrüche (Tränen in melodramatischen Momenten) und psychosomatische Affekte (Ekel, Furcht). Die spezifische Reaktion des Zuschauers ist individuell und von der jeweiligen Sozialisation geprägt. Hier liegt ein weiteres Element der Unberechenbarkeit in der Filmrezeption. Dazu kommt die jeweilige individuelle Medienkompetenz, denn mediengeschulte Zuschauer können erheblich mehr Reize und Informationen pro Zeit verarbeiten als ungeschulte. In jedem Fall aber muss zwischen diesen performativen sinnlichen Attacken des Films und dessen narrativem Fluss unterschieden werden, denn obwohl sich beides nicht ausschließt, kann sich die „Sensation“ verselbständigen und eine eigene Qualität erringen.

    Gilles Deleuze nennt den künstlerischen Einsatz extrem sinnlich ausgerichteter Mittel in der Kunst Sensation, und speziell dem Film könnte es gelingen, mit einer konsequenten Sprache der Körper an das von Deleuze am Beispiel der Bilder von Cézanne formulierte Konzept der „Sensation“ anzuschließen:

    „Die Figur ist die auf die Sensation bezogene sinnliche Form; sie wirkt unmittelbar auf das Nervensystem, das Fleisch ist. Während sich die abstrakte Form an das Gehirn adressiert, über das Gehirn wirkt, eher dem Knochenbau verwandt. [...] Die Sensation ist das Gegenteil des Leichten und Überkommenen, des Klischees, aber auch des „Sensationellen“, des Spontanen... etc. Die Sensation ist mit einer Seite zum Subjekt hin gewendet (das Nervensystem, die Vitalbewegung, der ‚Trieb’, das ‚Temperament’ [...]), mit der anderen zum Objekt (das ‚Faktum’, der Schauplatz, das Ereignis). Oder besser: Sie hat überhaupt keine Seiten, sie ist unauflösbar beides zugleich, sie ist Auf-der-Welt-Sein, wie die Phänomenologen sagen: Ich werde in der Sensation, und zugleich geschieht etwas durch die Sensation, das eine durch das andere, das eine im anderen.“ (Deleuze 1995: 27)

    Was hier über die Malerei gesagt wird, die den Affekt selbst materialisiert, die dem Akt des Betrachtens eine psychosomatische Effektivität abnötigt, umschreibt bereits eine performative und letztlich seduktive Strategie der Bildenden Kunst. Noch deutlicher wird das in den Bildern von Francis Bacon, die Verzerrungen und Bewegungsunschärfen mit einarbeiten und damit ein ganz eigenes „Körperkino“ kreieren bzw. vorwegnehmen.

    Ein wesentlicher Schlüssel zur Analyse der performativen „Sensation“ des Films liegt also in seiner (symbolischen) Körperlichkeit und seinem Appell an die Körperlichkeit des Zuschauers mittels affizierender, haptischer Bilder und Klänge.

    Haptische Filmbilder als performativer Akt

    Seit den 1970er Jahren besinnen sich auch Filmemacher auf diese Qualitäten der „Sensation“ und knüpfen mit radikalen Grenzformen des Spielfilms an Avantgardestrategien der modernen Bildenden Kunst an: David Lynch mit Eraserhead (1979), E. Elias Merhige mit The Begotten (1990) oder Philippe Grandrieux mit Sombre (Düstere Triebe, 1998). Die Strategie dieser Filmemacher ist die Inzenierung haptischer Bilder, die eine performative Qualität des Films tragen:

    „Haptic images can give the impression of seeing for the first time, gradually discovering what is in the image rather than coming to the image already knowing what it is. Several such works represent the point of view of a disoriented traveller unsure how to read the world in which he finds himself.” (Marks 2002: 178)

    Für den performativen Film ist es wichtig, dass der Zuschauer die Bereitschaft mitbringt, sich der Inszenierung ebenso auszuliefern wie der Fan auf einem Rockkonzert, eingekeilt zwischen Gleichgesinnten, seines Atems beraubt durch den Druck der Darbietung und des begehrenden Drängens auf die Bühne zu. Die Filmwissenschaftlerin Martine Beugnet betont:

    „to open oneself to sensory awareness and let oneself be physically affected by an art work or a spectacle is to relinquish the will to gain full mastery over it, choosing intensity and chaos over rational detachment.” (Beugnet 2007: 3)

    Diese Intensität entsteht, wenn Film nicht mehr nur als erzählendes Medium begriffen wird, sondern die Grenze überschreitet, die sichere Membran der Leinwand sprengt und sich über den Zuschauer ergießt, diesen konfrontiert wie ein performativer Akt. Film besteht dann nur noch in seiner Unmittelbarkeit, lässt die ursprüngliche Distanz und die Dimension der Zeit vergessen. Der performative Film berührt den Zuschauer förmlich physisch über die Netzhaut, er dringt durch den Sehnerv in den Körper vor und aktiviert rückhaltlos das affektive Gedächtnis.

    Es zählt nicht mehr, was erzählt wird, denn die Erzählung auf der narrativen Ebene ist labil und austauschbar, sondern das momentane Wie. Eine filmische Illusion, die einfache Mimesis des sozialen Alltags, wird dabei ebenso aufgegeben wie die psychologische Dimension der Figuren. Wichtig ist zunächst, was diese Filme mit dem Betrachter anstellen, und vor allem wie sie das tun.

     

    ZUR PERSON:

    Marcus Stiglegger wurde 1999 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Fach Filmwissenschaft mit der Studie “Sadiconazista – Faschismus und Sexualität im Film” promoviert und habilitierte sich 2006 mit “Ritual und Verführung”, womit er die Seduktionstheorie des Films begründete. Darüber hinaus hat er Lehraufträge an der Universität Mannheim, Internationale Filmschule Köln, Filmakademie Baden-Württemberg und der Clemson University. Derzeit lehrt er an der Universität Siegen Filmanalyse.

    Marcus Stiglegger schreibt regelmäßig für die Filmzeitschriften film-dienst und epd Film sowie das Poptheorie-Magazin Testcard. Seit 2002 ist er Gründer und Herausgeber des Kulturmagazins :Ikonen: – Zeitschrift für Kunst, Kultur und Lebensart mit Sitz in Wiesbaden. [Publikationsliste]