1. Fussball, Storytelling und der deutsche Film, Teil 3

    08.09.2014 /// / /

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    Die dreiteilige Essay-Reihe Fußball, Storytelling und der deutsche Film von Katti Jisuk Seo und Mark Wachholz geht in die finale Runde: Teil 1: Oceans of Space und Teil 2: A Test of Brazilian Character untersuchten die Mechanismen von Spannungsaufbau und das Weben von Bedeutungszusammenhängen als inspirierende dramaturgische Tools, die der BBC-Kommentar im Gegensatz zum tatsächlichkeitsbesessenen deutschen Fußballkommentar anwendet. Der abschließende Teil zeigt schließlich, wie ein thematischer Konflikt aus einer spannenden Abfolge von Ereignissen eine emotional packende Story macht.
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    Teil 1: Oceans of Space
    Teil 2: A Test of Character
    Teil 3: Falling Apart
     

    Falling Apart

    Struktur und Chaos

    Das wundervolle Wort shambolic aus dem britischen Englisch bedeutet so viel wie chaotisch oder wirr. Es leitet sich von shambles ab, was alles von Durcheinander über Scherben– oder Trümmerhaufen bis Schlachtfeld oder Metzgerei bedeuten kann. Mit anderen Worten: heilloses Chaos.

    Als es nach einer halben Stunde im WM-Halbfinalspiel gegen eine desolate und »schwindelig gespielte« (Béla Réthy) brasilianische Mannschaft bereits 5:0 für Deutschland steht, beschreiben die beiden BBC-Kommentatoren Steve Wilson und Martin Keown das brasilianische Team so: »They have been shambolic from the moment they fell behind.« Als Philipp Lahm gerade mal wieder einen Ball in den brasilianischen Strafraum spielt, sehen die Briten »bodies all over the place« (also völlig verstreute brasilianische Abwehrspieler). »No one getting tight. Everyone out of position.« ergänzen sie in der 32. Minute. Den britischen Kommentatoren zufolge hatte also die Brasilianer nach dem ersten Gegentreffer pures Chaos erfasst.

    Im gleichen Atemzug – und in direktem Kontrast zum Chaos in den brasilianischen Reihen – beschreiben sie anerkennend eine starke Ordnung und Struktur in der deutschen Mannschaft: »So much more structure to the German side. […] There is a structure to their team.« (33. Minute) Auch Béla Réthy im ZDF bemerkt zu dieser Zeit in seinem vorgegriffenen »Endfazit« die starke Ordnung im deutschen Team: »Insgesamt war Deutschland einfach besser strukturiert, organisiert.« (32. Minute)

    Ordnung auf der einen Seite, Chaos auf der anderen. Zwei gegensätzliche Prinzipien, die hier aufeinanderprallen. Das ist die Welt thematischer Konflikte, in denen das Herz einer Story schlägt. Denn so sehr packender Spannungsaufbau eine Geschichte vorantreibt (siehe Oceans of Space) und so sehr das Weben von Bedeutungsnetzen den Zuschauer persönlich involviert (siehe A Test of Brazilian Character), so sehr sind es starke thematische Konflikte, die einer Story erst ihre Tiefe und emotionale Resonanz geben. Denn das Thema einer Geschichte verhandelt den Kampf des Menschen mit seinem eigenen Dasein.

    Deutscher Film: Am Thema vorbei

    Das Thema einer Geschichte ist der vielleicht wichtigste und doch der am wenigsten einheitlich verstandene Aspekt von Storytelling. So scheint der deutsche Film auf den ersten Blick extrem themenfixiert. Noch vor einer spannend erzählten Geschichte gilt bei Sendern und Förderanstalten die Auseinandersetzung mit einem – möglichst gesellschaftlich relevanten – Thema als wichtigster Pfeiler der Story. Gern ist das die Beschäftigung mit sozialen Missständen (wie Arbeitslosigkeit, Diskriminierung oder Migration), die Zurschaustellung persönlicher Dramen (wie z.B. Mobbing oder postnatale Depression) oder die geschichtliche Aufarbeitungen des Zweiten Weltkriegs oder der DDR-Diktatur. Diese Themen sollen die gesellschaftliche und künstlerische Relevanz des Filmwerks sicherstellen.

    Das einzige Problem: Das sind keine Themen im Storytelling-Sinn. Es sind Topics (in der Fachsprache gern auch Sujets), d.h. unbearbeitete Stoffideen, in denen thematische Konflikte erst noch entdeckt werden müssen. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs ›Thema‹ – als Topic einerseits und als thematische Konflikte andererseits – führt dazu, dass Autoren letztere nicht als zentrale Elemente einer Geschichte wahrnehmen und aktiv ausarbeiten. So verwechselt der deutsche Film immer wieder Thema und Topic.

    In der richtigkeitsfixierten deutschen Erzählkultur gelten Topics wie Arbeitslosigkeit, Unterdrückung oder ADHS als per se erzählenswert. Ihr künstlerisch-gesellschaftlicher Wert ist sakrosankt. Weil das aber noch keine thematischen Konflikte ergibt, kommen dabei auch nicht automatisch spannende und erzählerisch anspruchsvolle Geschichten heraus. Ganz im Gegenteil. Viel eher ist es so, dass echte thematische Konflikte einer Geschichte erst dabei helfen würden, etwas Sinnstiftendes über Topics wie Arbeitslosigkeit, Unterdrückung oder ADHS zu erzählen.

    Denn das Thema bzw. der thematische Konflikt einer Story ist die Verhandlung zweier einander widersprechender und im Grund unvereinbarer Prinzipien menschlicher Lebenserfahrung. Unabänderliche Parameter menschlicher Existenz wie Leben vs. Tod, Ordnung vs. Chaos, Individuum vs. Gemeinschaft, Schicksal vs. Freier Wille, Sicherheit vs. Freiheit oder Wahrheit vs. Erinnerung prallen in größtmöglicher Weise aufeinander und stellen Figuren (und damit auch den Zuschauer) in bezug auf ihre persönlichen oder gesellschaftlichen Werte und Weltbilder vor grundlegende Herausforderungen und Gewissensentscheidungen. In den dramatischen Konflikten der Figuren zeigt sich der wechselseitige Kampf dieser Prinzipien. Das macht eine Story erst dynamisch, reichhaltig, komplex – und wie wir noch sehen werden auch erst emotional.

    Weil der deutsche Film denkt, er hätte ein Thema, dies aber mit Topic verwechselt, fehlen vielen Filmen hierzulande facettenreich bespielte thematische Konflikte. Die Filme werden entweder zu beschreibenden Darstellungen, die auf Realismus und politisch korrekte Haltung achten – am besten mit einer gesellschaftlich stabilisierenden Aussage (weil man unter Thema gleich noch eine zentrale Botschaft versteht) oder einem Zurücklassen des Zuschauers in scheinbar aussagekräftiger Vagheit, weil das Anspruch suggeriert, desaströse Zuschauerzahlen rechtfertigt und gegen Kritik imprägniert. Oder sie werden – wie viele Komödien und Genrefilme – zu Klischeehüllen, weil sie die thematischen Konflikte ihrer Genres nicht (mehr) kennen und die dadurch entstehende thematische Leere mit behaupteter tiefer Bedeutung zu kaschieren versuchen.

    In den ersten beiden Teilen dieses Essays (Oceans of Space und A Test of Brazilian Character) haben wir anhand des Vergleichs zwischen deutschem und britischem Fußballkommentar untersucht, wie sich aus Fragen und Antworten, Hypothesen, Intentionen und Stakes dramatische Konflikte und Spannung in einer Geschichte aufbauen und durch Kontrast, Interpretationsmut und der Zuweisung von Bedeutungen (Kontext) erzählerisches Gewicht und Sinnstiftung und damit persönliche Zuschauerbindung entstehen.

    Im Folgenden wollen wir beispielhaft zeigen, wie die BBC-Kommentatoren mit dem Kampf zwischen Struktur und Chaos einen thematischen Kernkonflikt identifiziert haben, der sich durch das ganze WM-Halbfinalspiel zieht. Für Béla Réthy ist das Thema des Spiels dagegen … aber dazu kommen wir später.

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    Brasiliens Zusammenhalt

    Zunächst scheinen die Prinzipien von Struktur und Chaos im Spiel geradezu klischeehaft auf beide Mannschaften verteilt: auf der einen Seite die ordnungsliebenden, rationalen, planenden Deutschen, die strukturiert und überlegt spielen, auf der anderen Seite die kopflos aufspielenden, ballzaubernden, überemotionalisierten Brasilianer, die sich planlos auf dem Spielfeld verstreuen.

    Doch stattdessen beginnt die Geschichte bei der BBC in den ersten Spielminuten mit Struktur und Ordnung auf brasilianischer Seite: »They started in quite a composed fashion here«, finden die britischen Kommentatoren. Composed beschreibt uns hier eine Selbstkontrolle der Brasilianer, ein Zusammenreißen oder Sich-Selbst-Zusammenhalten, nachdem die Mannschaft in den vorherigen Spielen immer wieder einen nervösen und unverlässlichen Eindruck gemacht hatte.

    Dieses Zusammenhalten der brasilianischen Mannschaft spiegelt sich in einem anderen Begriff wider: Noch bevor die TV-Moderatoren an ihre Kommentatoren-Kollegen Wilson und Keown übergeben, attestieren sie dem Team eine »togetherness«, einen starken Zusammenhalt der Mannschaft, denn die Brasilianer wollen unbedingt das Spiel für ihren verletzten Stürmer-Star Neymar gewinnen. Diesen Zusammenhalt drücken sie nicht nur dadurch aus, dass alle Spieler vor dem Spiel Baseballkappen mit der Aufschrift »Forca Neymar« (übersetzt etwa: Neymars Kraft) tragen, sondern alle auch bei der Nationalhymne demonstrativ in gemeinsamem Schulterschluss stehen und singen.

    In den ersten Minuten des Spiels starten wir also mit einer brasilianischen Mannschaft, die mit der gemeinsam beschworenen togetherness und dem mentalen Zusammenreißen als composed fashion einen gleich zweifachen Zusammenhalt zeigt. Doch in den nächsten 90 Minuten wird sich die brasilianische Ordnung und Struktur Schritt für Schritt in Chaos umwandeln.

    Zusammenhalt unter Druck

    Sofort nach Spielbeginn sprechen die britischen Kommentatoren von einer »composure under pressure« (4. Minute). Damit meinen sie, dass nicht etwa neu gewonnenes Selbstbewusstsein, sondern vor allem der hohe Erwartungsdruck die Brasilianer zur Selbstbeherrschung zusammenschweißt – vergleichbar mit mehreren Stücken Knete, die man in der Hand zusammenpresst. Druck (pressure) hält zusammen (composure) und wird so zum ordnenden Element.

    Doch presst man die Faust zu stark zusammen, rinnt die Knete zwischen den Fingern wieder heraus und fällt somit wieder auseinander. In Storys hilft jede Art von Druck, dramatische und damit auch thematische Konflikte zu eskalieren. So auch hier. Bereits in der 4. Minute bezweifeln die Briten mit »Question marks about this Brazilian team’s composure under pressure« die Festigkeit des brasilianischen Teams. Kurz darauf, während den BBC-Kommentatoren auch die »oceans of space« auffallen, spitzen sie dies weiter zu (»they got to be brave, deal with the pressure that’s on them«) und erinnern an das vorangegangene Viertelfinalspiel der Brasilianer gegen Kolumbien, als das Team in der zweiten Halbzeit in große Panik geriet (»they were panicking«).

    Dieser Rückbezug ist im Gegensatz zu Réthys statistischen Vergangenheitsvergleichen absolut storyrelevant, weil hier die abstrakten Grundprinzipien von Struktur und Chaos in vorwärtsgerichteten thematischen Fragen konkretisiert werden: Wird der Druck Brasilien weiter zusammenhalten (Struktur)? Werden sie es schaffen, Mut und Tapferkeit zu beweisen? Oder werden sie in Folge des Drucks in Panik auseinanderbrechen (Chaos)?

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    Figuren als Träger thematischer Konflikte

    Wir befinden uns wieder einmal in der 11. Minute. Wie schon in den ersten beiden Essayteilen entpuppt sich das 1:0 für Deutschland auch hier als wichtiger Schlüsselmoment der Dramaturgie der britischen Kommentatoren. Während sich Toni Kroos in aller Ruhe den Ball zum Eckstoß bereitlegt, bemerkt der britische Kommentar bereits eine »slight nervousness« auf brasilianischer Seite.

    Die Kommentatoren behalten auch in diesem wichtigen Moment ihre thematische Frage im Blick: Unter dem langsam steigenden Druck droht Schritt für Schritt die panic die composure der Mannschaft zu zer- und damit auch zu ersetzen. Als wenige Augenblicke später Thomas Müller das Tor erzielt, erhöht sich der Druck auf die Brasilianer unvermittelt. Die bislang zur Einheit zusammengepresste Mannschaft erhält sofort erste Risse. Jetzt kann nur noch Selbstbeherrschung (mentale Ordnung und Struktur) der aufsteigenden Panik (mentales Chaos) entgegenwirken.

    Immer wieder personalisiert der BBC-Kommentar ›Druck‹ und thematische Frage. So sprechen die Briten gleich zu Beginn des Spiels davon, welcher Druck auf dem erstmals bei dieser WM aufgestellten Abwehrspieler Dante liegen muss, der wegen des Fehlens des Abwehrchefs Thiago Silva in die Mannschaft kam. Später übt der junge Stürmer Bernard nicht nur »good pressure […] like a terrier« aus, sondern spürt auch »pressure on his shoulders tonight« (17. Minute), weil er den unersetzlichen Neymar ersetzen muss.

    In einer Story sind Figuren als Handlungsträger, mit denen wir uns identifizieren, lebendige Verkörperungen thematischer Konflikte. Sie ringen anhand spezifischer Probleme und Ziele (z.B. der Gewinn eines Fußballspiels, das Enttarnen eines feindlichen Spions oder die Versöhnung mit der einst aus der Familie verstoßenen Tochter) mit Grundzuständen menschlichen Daseins. Thematische Konflikte, die in ihrer Natur zunächst abstrakt und allgemein sind, erhalten so eine Konkretisierung und Personifikation. Im kopflos voranstürmenden Abwehrspieler Marcelo oder am verzweifelt verteidigenden David Luiz manifestieren sich Panik und Chaos der Brasilianer. Am schlau positionierten Thomas Müller oder am eiskalt verwandelnden Toni Kroos zeigen sich Ordnung und Struktur der Deutschen.

    Als Zuschauer erhalten wir so eine thematische Perspektive auf Figuren und Handlung, ohne dass wir den thematischen Konflikt direkt wahrnehmen müssen oder er uns gar von den Figuren selbst erzählt und erklärt werden müsste, wie es der deutsche Filme ja allzugern tut. Ohne das Verständnis, dass thematische Konflikte (wie z.B. Struktur vs. Chaos) anhand von Figuren und ihren Handlungen und Entscheidungen auf der Plotebene erzählt werden, landet man schnell bei Geschichten, die ihre ›Botschaft‹ direkt erklären, wie Predigten daherkommen oder wie Mahnungen mit erhobenem Zeigefinger. Wie dramatische Konflikte wollen jedoch auch thematische Konflikte vom Zuschauer selbst erkundet und gedeutet werden.

    Brasiliens Zerfall im Kontrast

    Mit vier weiteren Toren in der ersten Halbzeit zerfällt Brasiliens Ordnung, teilweise wörtlich: »It’s breaking down far too often, that Brazil’s left hand side«, analysieren die BBC-Kommentatoren beispielsweise in der 19. Minute. Das Fußballspiel wird zu einem exemplarischen Beispiel, wie Struktur und Ordnung unter Druck zerbrechen und das in Chaos mündet.

    Wie immer im starken Kontrast betonen die Briten dagegen die gefestigte Ordnung der deutschen Mannschaft: »Germany complete in control of the match«, stellen sie in der 24. Minute fest, als Augenblicke später das 3:0 durch Toni Kroos fällt. Und was in Teil 2 noch ein Beispiel für metaphorisches Erzählen war, entpuppt sich jetzt als zentrales Sprachbild des thematischen Konflikts der Story: »Brazil have fallen apart inside 25 minutes.«

    Brasilien liegt in Trümmern. Erneut erhalten wir eine Antwort auf zuvor gestellte Fragen: Der Druck war zu stark. Er hat die als Einheit beginnende brasilianische Mannschaft so lange zusammengepresst, bis sie auseinanderbrechen musste. Die BBC-Kommentatoren bleiben immer sehr genau in ihren sprachlichen Bildern, wenn sie fragen: »Is the pressure too much, the expectation, the public here? […] You got to have that strong backbone – and it’s missing from this team.« (27. Minute) Und es bleibt die Frage, wie Brasilien auch ohne Rückgrat zusammenfinden könnte: »How do they find some composure now?« (27. Minute)

    Die Antwort: gar nicht. Nach dem Torhagel in der ersten halben Stunde ist von Brasilien nur noch ein Scherbenhaufen übriggeblieben. Die Mannschaft zeigt sich nicht nur »shambolic«, sondern »blown to smithereens« (30. Minute), also in Stücke gesprengt, während in starkem Kontrast gleich mehrmals die bewundernswerte »structure« der deutschen Mannschaft hervorgehoben wird. Und in der 80. Minute, als es längst Szenenapplaus für die deutsche Mannschaft gibt, sprechen die Briten davon, wie sich die brasilianischen Fans von ihren in Stücke gerissenen Helden abgewandt haben: »They just stood and applauded the team that has dismantled their heroes limb from limb.«

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    Thematischer Konflikt in Sprache

    Die Prinzipien von Struktur und Chaos treffen in Form der beiden unterschiedlichen Mannschaften mit starkem Effekt aufeinander. Der thematische Konflikt des Spiels zieht sich im britischen Kommentar aber auch durch das verwendete Vokabular.

    Während im Deutschen meist nur Präpositionen wie auf, zu oder gegen genutzt werden, verwenden die Briten vor allem Verben des Suchens, Findens und Verlierens wie looking for, finding und losing. So heißt es in der 41. Minute »Fernandino can find Hulk on his near side« statt wie bei Béla Réthy »Fernandino auf Hulk«. Gleiches gilt für »This is Klose, looking for Müller« statt »Klose … Müller« bei Réthy. Diese Verben zeigen ein permanentes Ringen um Ordnung und Kontrolle und den Kampf gegen Unberechenbarkeit und Chaos. Da verstolpert sich Özil und stürzt (»Özil losing his footing«, 2. Minute), während Brasilien mit Thiago Silva und Neymar ohne seine beiden wichtigsten Spieler spielt (»they lost those two big players«, ebenfalls 2. Minute). Und Marcelo droht ja, wie wir schon gesehen habe, kurz vor dem ersten Tor der Ballverlust: »Marcelo in danger of losing [the ball]«. In der 10. Minute ist für Hulk der Ball »difficult to control«. Das drohende Chaos durch Verlust der Ordnung greift im britischen Kommentar sogar auf die Spieler selbst über, wenn es in der 77. Minute heißt: »David Luiz is in danger of losing his head.«

    Auch das Chaos, das Brasilien langsam aber sicher befällt, illustrieren die Briten nach dem ersten Gegentor als Suche: »If Brazil now are looking for leaders, there is no captain, no Thiago Silva. If they are looking for inspiration, there is no Neymar.« (13. Minute) Es herrscht Orientierungslosigkeit, ein Suchen ohne Finden.

    Wie schon im Äquivalent von Mut vs. Panik und Zusammenhalt vs. Auseinanderfallen findet das Kernthema Struktur vs. Chaos so eine weitere Übersetzung in dem Konflikt Orientierung vs. Orientierungslosigkeit – in diesem Fall auf der Ebene der Sprache. Damit erhält der grundsätzliche thematische Konflikt des Spiels verschiedene Ausprägungen und die Story eine spürbare thematische Vielschichtigkeit.

    Es sei dahingestellt, ob dies typische Formulierungen in der britischen Fußballsprache sind, ob es sogar völlig alltägliche Sprachbilder im britischen Englisch sind, oder ob sich die BBC-Kommentierung hier (bewusst oder unbewusst) auch im Verbvokabular auf einen thematischen Konflikt eingeschärft hat. Die erzählerische Wirkung einer Sprache, durch die sich das Erzählthema zieht, bleibt dieselbe. Es zeigt sich daran gut, wie reichhaltig sich thematische Konflikte bis ins kleinste Detail bespielen lassen.

    Wenn Struktur zu Sturheit wird

    Bislang haben wir gesehen, wie sich der thematische Kernkonflikt Struktur vs. Chaos in der britischen Spielkommentierung spätestens ab dem ersten Tor klar zwischen deutscher und brasilianischer Seite verteilt – auch in Varianten wie Mut vs. Panik auf der Figurenebene oder Orientierung vs. Orientierungslosigkeit auf der Sprachebene. Ordnung und Struktur waren bisher immer eindeutig positiv belegt, Chaos dagegen negativ.

    Wenige Minuten nach dem ersten Tor sprechen die BBC-Kommentatoren darüber, welche anderen Optionen der brasilianische Trainer Luiz Felipe Scolari in der Mannschaftsaufstellung gehabt hätte – doch dass sich dieser trotz aller schlechten Zeichen aus den Vorspielen (u.a. die Verluste von Neymar und Thiago Silva oder die enttäuschende Leistung von Stürmer Fred) gegen Änderungen entschied: »Scolari though just keeps sticking with his team.« (15. Minute)

    Das ist der Punkt, an dem eine Story einen thematischen Konflikt wirklich mehrdimensional auszuschöpfen beginnt. Brasilien bleibt nicht mehr einseitiger Träger des Chaos, sondern trägt auch die Seite der Struktur in sich. Gleichzeitig ist im Gegensatz zur deutschen Mannschaft Struktur als mentale Sturheit hier nun negativ konnotiert. Dadurch zeigen sich unterschiedliche Gesichter von Struktur.

    Während sich Struktur beim »stockkonservativen« brasilianischen Trainer also als »Unbeweglichkeit« zeigt, die auch Béla Réthy in der 72. Minute anmerkt, zeigt die Struktur der deutschen Mannschaft eine ganz andere Ausprägung. »Their structure is so nice though, they are free in their movements.« (40. Minute) Struktur kann also wiederum auf der anderen Seite – überraschender und zunächst kontra-intuitiver Weise – Freiheit und Dynamik mit sich bringen.

    Ein Thema auszuschöpfen bedeutet, es aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die Verhandlung zweier gegensätzlicher Prinzipien erlangt in einer Story sinnstiftende Tiefe, wenn von beiden Seiten sowohl positive als auch negative Aspekte und damit ihre ganz unterschiedlichen Gesichter beleuchtet werden.

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    Die Themenwelt des Béla Réthy, Teil 1: Macht

    Bei diesem Jahrhundertspiel scheint es selbst für uns als Zuschauer naheliegend, im deutschen Spiel ›Struktur‹ und im brasilianischen ›Chaos‹ zu erkennen. Darin allein besteht nicht die Leistung der BBC-Kommentatoren. Zum gleichen Zeitpunkt, als sie von »shambolic« und der deutschen »structure« sprechen, stellt nämlich auch Béla Réthy fest: »Insgesamt war Deutschland einfach besser strukturiert, organisiert«.

    Bei ihm kommt dieser Aspekt jedoch nur punktuell zum Tragen und erfährt erst recht keine grundsätzliche thematische Einordnung. Bei Réthy gibt es keine zusammenhängende Mind Map zu einem großen thematischen Konflikt, sondern nur alleinstehende Inseln, zwischen denen keine Verbindungen existieren.

    Weder baut Béla Réthy den frühen Zusammenhalt der Brasilianer auf, noch spricht er von dem Druck, der das Team zusammenhält – und vergibt damit die spannende thematische Frage, ab wann der Druck zu groß wird und zum Zerfall der brasilianischen Mannschaft führt. Stattdessen macht der ZDF-Mann in der nächsten Minute ein neues Thema auf: »Luiz Felipe Scolari steht immer noch in der Coaching-Zone und versucht seine Mannschaft zu dirigieren, aber ist im Moment der machtloseste Mensch hier im Stadion.« Plötzlich sind wir bei ihm irgendwie beim Thema Macht. Warum auch nicht. Es könnte nun interessant werden. Doch auch dieses Thema wird im weiteren Kommentarverlauf keine Rolle mehr spielen.

    Zum einem mangelt es in Béla Réthys Kommentierung wie so oft an Kontrastierung und Relation. Wenn er wie die Briten nach 30 Minuten von der »Strukturiertheit« der deutschen Mannschaft spricht, bleibt das bei ihm bedeutungslos und ohne einen entsprechend aufgebauten Gegensatz. Der deutsche Kommentar spricht lediglich von einer »besseren Struktur« und unterscheidet damit nur Graustufen: bessere Struktur vs. weniger gute Struktur. Das eignet sich kaum für ein Aufeinanderprallen gegensätzlicher Prinzipien.

    Es reicht nicht, nur die eine Seite der Medaille zu zeigen – so auch nicht bei Réthys Thema der Machtlosigkeit. Der ZDF-Mann hätte durchaus Möglichkeiten gehabt, vorher ausführlich die Macht von Mannschaft (als fünffacher Weltmeister mit einem Heimspiel vor anfeuernden Fanmassen) und Trainer anschaulich zu illustrieren. Der beste Beweis für tatsächliche Machtlosigkeit wäre gewesen, vorher die Machtfülle der Brasilianer anzuführen. Erst als direktes Gegensatzpaar werden beide Seiten eines Themas stark und relevant.

    Die Briten dagegen stellen die Brasilianer sogar nicht nur in Kontrast zur deutschen Mannschaft, sondern zeigen den Wandel des brasilianischen Teams innerhalb des Spiels durch einen Vorher-Nachher-Zustand auf: In der 38. Minute, nach Tor Nummer fünf, spricht der britische Kommentar davon, dass die Brasilianer keine »union« haben. Dies fällt genau deshalb ins Gewicht, weil er ihnen vorher »togetherness« attestierte. Wenn die Brasilianer als »falling apart« beschrieben werden, dann erhält dies deshalb Bedeutung, weil sie vorher als »composed (under pressure)« beschrieben wurden. Indem der britische Kommentar Struktur vs. Chaos auch als Wandel der brasilianischen Mannschaft im Vorher-Nachher-Zustand kontrastiert, schafft er im Gegensatz zu Réthy Konflikt und Bedeutung.

    Komplexe Themenerkundung

    Die BBC-Kommentatoren machen Mechanismen verstehbar: Druck kann zu Zusammenhalt führen. Erhöht sich der Druck jedoch, braucht es Mut, ihm Widerstand zu leisten. Fällt dieser Mut weg, kommt es zum Auseinanderfallen. Wir lernen, wie Chaos entsteht. Darüber hinaus erfahren wir, dass sich Struktur genauso auch als Unbeweglichkeit zeigen und andererseits aber auch zu Freiheit führen kann. Das ist eine komplexe Erkundung des Themas.

    Réthys Kommentar über die akute ›Machtlosigkeit‹ des Trainers und seiner Mannschaft würde erst dann erzählerisch ins Gewicht fallen, wenn er sie in Zusammenhang mit einer vorher beobachteten Angst vor Machtverlust gesetzt hätte und so beispielsweise den Zerfallsprozess von Macht oder die unterschiedlichen Facetten von Macht und Machtlosigkeit in einem Fußballspiel verdeutlicht hätte. Das hätte uns etwas Bedeutungsvolles darüber erzählt, wie sich Macht konstituiert und wie man sie verlieren kann. Es hätte uns auch emotional berührt, weil uns so erst die Tragik des Machtverlusts bewusst wird.

    Stattdessen macht Réthy Dramatisierungs- und Emotionalisierungsversuche, wenn er beispielsweise über den abwesenden Neymar sagt: »Sitzt in Guarojao am Meer, in der Nähe von Sao Paolo, hat sicherlich Tränen in den Augen.« Das ist aber reine Melodramatik, denn diese Art von ›Emotionalisierung‹ ist nur Behauptung. Emotionen in Geschichten sind nur dann tiefgreifend, wenn der Bedeutungsraum klar ist, wenn das Weinen nicht nur Reflexe bedienen soll, sondern thematisch etwas aussagt. (Zum Beispiel der Verlust über die Kontrolle der eigenen Gefühle.)

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    Die Themenwelt des Béla Réthy, Teil 2: Kenne deinen Feind

    Interessanterweise identifiziert Béla Réthy seinen eigentlichen thematischen Konflikt schon vor Spielbeginn: Als die beiden Mannschaften im Gang auf den Einzug ins Stadion warten und Bayern-München-Spieler wie Thomas Müller und Philipp Lahm ihrem brasilianischen Vereinskollegen Dante bei seinem WM-Debüt in der Nationalmannschaft die Daumen drücken, kommentiert Réthy: »Ja, wer hat den Vorteil? Hier mit Philipp Lahm. Kennt man Dante besser, oder kennt Dante seine Kollegen aus München besser? Ein Thema dieses Spiels.«

    Oder auch nicht. Im weiteren Spielverlauf kommt Réthy jedenfalls nicht mehr auf diese spannende Fragestellung zurück. Punktuell erwähnt er zwar immer mal wieder, wenn Gegenspieler gemeinsame Vereinserfahrung teilen, bezieht dies aber nicht auf die Frage nach dem gegenseitigen besseren Kennen. Dabei wäre dies eine ebenso spannende wie emotional lohnende thematische Verhandlung im Spiel gewesen.

    Denn in der Frage, »wer wen besser kennt«, stecken starke Fragen nach Freundschaft: Wie werden aus Kameraden und Freunden Gegner und Feinde? Es hätte sich angeboten, diese mit der thematischen Frage von Macht vs. Machtlosigkeit zu verbinden. Das gegenseitige Kennen könnte als Machtzuwachs und das Gekanntwerden als Machtverlust übersetzt werden. Was passiert, wenn man den Gegenspieler zu gut kennt und einem auch dadurch Machtverlust droht, dass man sich auf sein Wissen zu sehr verlässt, nicht mit Überraschungen rechnet – oder schlichtweg die persönliche Bindung zu Skrupel führt? Am Ende stünde erneut eine Grundfrage menschlicher Existenz: Wie sehr zeigt sich in meinem Gegner mein eigenes Selbst?

    Die persönliche Interpretation

    So macht der deutsche Kommentar mehrere große, spannende Themen auf, um sie dann nicht zu bedienen. Béla Réthy öffnet eine Tür, und statt reinzugehen, öffnet er die nächste Tür. Am Ende hat man viele offene Türen und weiß trotzdem nicht, was sich hinter ihnen verbirgt. Keines der angeschnittenen Themen wird in irgend einer erzählerischen und damit emotional relevanten Tiefe verhandelt.

    Dabei lassen sich durchaus auch mehrere Türen aufmachen – wenn man die dahinterliegenden thematischen Räume miteinander verbindet. Im britischen Kommentar wird das elegant gemacht: Hier erhält das Oberthema seine Tiefe durch die Verknüpfung mit Sub-Themen wie Zusammenhalt vs. Auseinanderfallen, Orientierungslosigkeit vs. Orientierung, Mut vs. Panik – und durch das Aufzeigen, wie diese Zustände jeweils verschiedene Auswirkungen von Druck als (erzählerisches) Treibmittel sein können.

    Vielleicht ist es in der angelsächsichen Kultur üblicher, mit thematischen Kontrasten eine Erzählung zu strukturieren. So wird jedenfalls das Spiel zu einem bedeutungsvollen, anschaulichen Beispiel für den abstrakten thematischen Konflikt zwischen Chaos und Struktur. Zielsicher haben die Briten hier einen Konflikt identifiziert.

    Gleichzeitig zeigt sich an dem Beispiel »Wer kennt wen besser?« und dem Themenvorschlag Macht vs. Machtlosigkeit, dass Struktur vs. Chaos nur eines von vielen möglichen Themen ist, auf die man sich bei diesem Spiel in der Kommentierung hätte konzentrieren können. Andere Themenkomplexe hätten uns genauso emotional mit dem Spiel verbunden. Die Kunst ist es, mit Interpretationsmut eine Lesart der Ereignisse zu wagen, in ihnen erzählenswerte Wirkungsmechanismen zu entdecken. Das zieht rein, berührt emotional und bereichert uns mit neuen Erkenntnissen.

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    Wie Dramatik und Thematik ineinandergreifen

    Fassen wir noch einmal zusammen: Um ein fernes Ziel zu erreichen oder ein schier unlösbares Problem zu lösen (»shake up the unshakeable«), steht unsere Hauptfigur in jeder Stufe der Geschichte vor neuen Herausforderungen und konfliktträchtigen Entscheidungen, die immer wieder Fragen für den Zuschauer aufwerfen, deren Beantwortung er entgegenfiebert. Das sind dramatische Konflikte. Sie packen uns unmittelbar und ziehen uns über konkrete Spannung in die Story.

    In thematischen Konflikten ringen zwei gegensätzliche und im Grunde unvereinbare Prinzipien miteinander. Während uns dramatische Konflikte etwas über die persönliche Welt der Figuren und des Zuschauers sagen, bespielen thematische Konflikte Erfahrungen, die über die eines Einzelnen hinausgehen und uns so über das Menschsein an sich Auskunft geben. Hier liegt die Quelle, warum uns Geschichten so stark emotional berühren können.

    Dazu müssen dramatischer und thematischer Konflikt ineinandergreifen: Wenn Figuren schwere Entscheidungen treffen und große Herausforderungen überwinden, dann emotionalisiert es uns deshalb, weil diese Entscheidungen und Herausforderungen in guten Story unabänderliche Parameter menschlicher Existenz betreffen und so universelle Hoffnungen, Ängste und Erfahrungen bespielen. Das erhebt uns als Zuschauer.

    Fazit: Die Bedeutung thematischer Konflikte

    Thematische Konflikte geben der Story im Ganzen einen Sinn. Sie sind die Perspektive (und damit Aussage bzw. Interpretationsvorlage) zu dem, was auf der Handlungsebene geschieht. Der thematische Konflikt macht den dramatischen tief. Dramatische Konflikte wiederum bringen das Thema einer Geschichte überhaupt erst in eine spezifische und damit für den Zuschauer erfahrbare Gestalt. Sie machen Fragen und Dilemmata unserer menschlichen Existenz sichtbar und fühlbar. Der dramatische Konflikt macht den thematischen spannend.

    Im WM-Halbfinalspiel Brasilien vs. Deutschland haben uns die BBC-Kommentatoren die Story eines immer schwerer zu bestehenden Charaktertestes (dramatischer Konflikt) erzählt. In diesem hat das ewige Ringen von Struktur und Chaos (thematischer Konflikt) ein spezifisches Gesicht erhalten. Ein Fußballspiel wurde so zu einer sichtbaren und fühlbaren Allegorie für eines der großen Themen und Konflikte unseres menschlichen Daseins: Die Story hat uns anhand ihres Handlungsverlaufs beispielhaft dargelegt, wie Ordnung zu Chaos wird, wenn unsere Hauptfigur unter dem Druck zusammenbricht statt zusammenhält und damit im Charaktertest versagt.

    Wenn man sich – bewusst oder unbewusst – dramatischen Konflikten verweigert (was hierzulande sowohl absichtlich als auch in Unkenntnis spannenden Storytellings häufig geschieht), ist die Geschichte um so mehr auf eine makellose Konzeption thematischer Konflikte angewiesen. Denn dort liegt bei aller Dramatik das wahre Herz der Geschichte.

    Weil aber, wie eingangs geschildert, deutsche Filme Thema häufig mit Topic verwechseln, sind sie nicht nur mangels packender Dramaturgie unspannend, sondern bleiben meist auch noch durch Abwesenheit eines thematischen Konflikts so kalt wie Eiswasser. Erzählerisch kann der deutschen Film also noch viel lernen – auch vom britischen Fußballkommentar.

    Katti Jisuk Seo & Mark Wachholz