Immer wieder interessant, wie man auf dieselben Aristotelischen Höhlenschatten blicken und zu ganz konträren Thesen kommen kann.
Fast zeitgleich zu meiner Betrachtung zur Phantastik im Dritten Reich schrieb Harald Mühlbeyer, Mitherausgeber von “Ansichtssache – Zum aktuellen deutschen Film”, über Goebbels Filmpolitik und gelangte interessanterweise zu einer völlig anderen Auffassung:
Paradoxerweise werden Goebbels Thesen von einer Volksfilmkunst, die sich nicht vor der Härte des Alltags verstecken und nicht in Traumwelten entfliehen soll, provokativ bejaht. Und das Scheitern Goebbels wird von ihm ebenso provokant bedauert, da der NS-Film genau diese Flucht in Traumwelten angetreten und bis heute in Form von massenwirksamen, seichten Komödien a la Schweiger seine Nachfolger gefunden haben soll.
"Wo er recht hat, hat er recht; mit purem 'Komm mit ins Abenteuerland' darf Film nicht locken, mit Populismus freilich auch nicht – aber sieht man sich die UFA-Ästhetik an, die zu großem Teil der Herr Propagandaminister zu verantworten hat, muss man sagen: Er selbst hat versagt."
"Wirklichkeitsfremde Regisseure und Manuskriptschreiber – genau das war es, was Goebbels realiter heranzog. Und genau an dieser Ästhetik krankte der deutsche Film durchgehend bis in die 1960er; und dann immer wieder sporadisch aufflammend bis heute."
Natürlich bemüht sich Mühlbeyer von Goebbels abzusetzen, er nutze nur dessen filmkünstlerischen Ausführungen für eine heutige Betrachtung. Daran ist an sich nichts verkehrt, schließlich verstand auch Hitler etwas von Malerei.
"Selbstverständlich lese ich in Goebbels Dinge hinein, die er nicht gemeint hat; ihm ging es, nach allem, was er in den ihm verbleibenden Jahren schuf, um die Erziehung des Menschen im bösen Sinne, Film war von Anfang an als Teil der Nazipropagandamaschinerie gedacht. Doch natürlich kann man auf diesen verdrehten Ideen gut herumspringen, an diesem Stoff gut herumspinnen – das Interessante ist ja gerade, dass Goebbels vor knapp 80 Jahren schon Worte von sich gegeben hat, denen – lässt man ihnen genug Willkür angedeihen – locker ein Bezug zum Heute angedichtet werden kann."
Mühlbeyer distanziert sich zwar ausdrücklich von Goebbels Erziehung des Menschen im bösen Sinne. Doch weshalb er dessen Filmthesen in ihrer puren Lesart begrüßen und ihre Nichterfüllung bedauern kann, liegt daran, dass er wohl – ganz in deutscher Tradition – einen reichlich pädagogischen Ansatz zur Filmkunst pflegt: Erziehung im bösen Sinne sei nicht in Ordnung, dies gelte aber nicht für die Erziehung im guten Sinne. Die scheint wohl nötig zu sein, wenn sich das Volk lieber Schweiger-Komödien und schlechte TV-Serien ansieht als Berliner Schule.
"Dass Sender, die wegen Gebührenfinanzierung ('materielle Opfer') eigentlich nicht auf Zuschauerzahlen angewiesen sind, nichts anderes zu tun haben, als mit simpelsten Mitteln auf Zuschauerfang gehen zu wollen? Ob hier wohl noch irgendjemandes Geschmack im guten Sinne erzogen werden kann und soll? Doch wenn nicht hier, wo sonst?
Die sogenannte Berliner Schule andererseits ist die erste wirkliche stilbildende Bewegung in der deutschen Kinematographie der letzten Jahrzehnte. [...] Die Protagonisten der Berliner Schule glauben an eine Erziehbarkeit des Geschmacks, und vielleicht nicht nur des Geschmacks."
Natürlich wäre es konsequenter, wenn filmgeförderte Arthouse-Filme auch zur Prime-Time im Fernsehen ausgestrahlt werden würden, und es nicht den Anschein hätte, dass man eine kleine Minderheit an Arthouse-Fans und Filmfestivalbesuchern auf Kosten der Mehrheit mit von ihnen präferierten Filmen versorgt. Allein fehlt mir der Glaube, dass eine solche Initative zur Rettung des deutschen Filmgeschmacks Früchte tragen würde. Die meisten Menschen reagieren nunmal sehr abwehrend gegenüber allzu offensichtlichen Erziehungsprogrammen, vielleicht hierzulande aufgrund der jüngeren Geschichte noch mehr als anderswo. Dass die Hinwendung zu Schweiger & Co., zur platten Unterhaltung und auch zu Hollywood-Traumwelten, mitunter daran liegen kann, dass man vor der Arroganz und bewussten Abgrenzung des eigenen Bildungskinos und Bildungsauftrags rettende Zuflucht sucht – auf diesen Gedankengang kommt Mühlbeyer leider nicht. Lieber vergleicht er solche Filme und ihre eindeutigen Erfolge mit den Durchhaltefilmen im Dritten Reich. Politisches Handwerkszeug anno 1968, es fehlt nur noch eine Attacke auf vermeintlich faschistoide Tendenzen in Science-Fiction, Fantasy und Horror.
Erziehen ohne (allzu offensichtlich) zu erziehen. Das wäre dagegen doch mal eine zukunftsträchtige Parole. Und für die benötigt man ganz bestimmt keine kruden Goebbelschen Gedankengänge. Lediglich das subversive Potenzial eines frei agierenden Genrefilms.