1. Von Netflix den Spiegel vorgehalten

    19.09.2014 /// /

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    Statt auch hierzulande in nationale Serienproduktionen zu investieren und seine lokale Basis in einem fragmentierten Markt zu festigen, erteilt Netflix zum Businessstart den Produzenten deutscher Fiction-Konzepte eine klare Absage. Es fehle an Serienstoffen, die auch international Interesse wecken. Eine harte Ohrfeige. Aber auch die Chance zur Selbstreflektion?

    Der Traum vom deutschen House of Cards

    Insbesondere deutsche TV-Autoren und -Produzenten hatten dem Deutschland-Start des amerikanischen VoD-Giganten Netflix wie einer Erlösung entgegengefiebert. Endlich würde ein finanzstarker Player auf den hiesigen Fernsehmarkt treten, der statt Provinzialität, Mittelmäßigkeit und kleinbürgerlicher Piefigkeit endlich nach spannenden, kontroversen und komplex erzählten Serien-Stoffen sucht. »Wir werden sicher auch in Deutschland produzieren«, so Netflix-Gründer Reed Hastings noch zwei Wochen zuvor gegenüber dem Spiegel. Doch der Traum von einem deutschen House of Cards ist vorerst geplatzt.

    Schon am Starttag hatten Netflix-Kommunikationsboss für Europa Joris Evers im Interview mit Quotenmeter und Chief Content Officer Ted Sarandos im Interview mit DWDL übereinstimmend gesagt, dass es derzeit keine Pläne des Streamingdiensts gäbe, in deutsche Serien und damit in deutsche Serienmacher zu investieren. Zunächst wolle man, wie bei Netflix üblich, die Vorlieben der deutschen Nutzer auswerten, um daraufhin genauer zugeschnitten nationalen Content zu produzieren. So war die eigenproduzierte Politdrama-Serie House of Cards anhand des Nutzerverhaltens von Netflix US geradezu maßgeschneidert worden, nachdem die internen Auswertungen ergeben hatten, dass die Nutzer Schauspieler Kevin Spacey und Regisseur David Fincher besonders mögen würden.

    Doch am Folgetag wurde Netflix-Firmengründer und CEO Reed Hastings im Interview mit Blickpunkt:Film deutlicher: »Wir haben in Deutschland Ausschau gehalten nach geeigneten Stoffen – aber nichts gefunden.« Einer der Hauptgründe gegen eine lokal produzierte Serie sei laut Hastings des Fehlen von Themen »von weltweitem Interesse« in den bei ihnen eingereichten Serienkonzepten. Unvermittelt wurde so der deutschen TV-Fiction der Spiegel vorgehalten. Plötzlich darf sich hiesige Stoffauswahl und Erzählkunst nicht mehr nur mit sich selbst vergleichen. Netflix spricht augenscheinlich direkt aus, was sowohl Zuschauer als auch Branchenkenner seit Jahren empfinden: Fiktionales deutsches Fernsehen erscheint im internationalen Vergleich rückständig und bedeutungslos.

    Der Kampf gegen den deutschen Fernseh-Behemoth

    Dabei ist davon auszugehen, dass viele, vor allem große deutsche Produktionsfirmen mit ihren Autoren endlich jene Ideen und Stoffe aus den Schubladen holten, die für das öffentlich-rechtliche und private Fernsehen in Deutschland zu aufwändig, zu komplex oder zu progressiv wären. Obwohl sie für die Präsentation ihrer Konzepte – in Ermangelung eines Netflix-Ansprechpartners in Deutschland – wohl direkt in der Firmenzentrale Los Gatos in Kalifornien vorsprechen mussten, sollten das die besten und zugkräftigsten Ideen gewesen sein, die hierzulande aufgeboten werden können. Ein Beteiligter erzählt beispielhaft von einem gut strukturierten, grafisch reichhaltig illustrierten und mit belastbaren Businesszahlen aufbereiteten Pitch, der Story und Potential der Serie griffig darstellte.

    »Man begibt sich nicht auf diese Via Dolorosa, weil man Soaps und Scripted Reality schreiben will«, sagt beispielsweise Drehbuchautor Stephan Greitemeier (Switch Reloaded, Chefautor beim Game Evil & Genius). In der Tat: Niemand wird sich mit einer weiteren Abwandlung von Ärzte-Soaps, unaufgeregtem Dorfidyll oder neuen ›Schmunzelkrimi‹-Derivaten bei Netflix vorgestellt haben. Wen man auch fragt: Die deutsche TV-Branche kennt und liebt die revolutionären amerikanischen Serien von Breaking Bad über Game of Thrones bis zu The Walking Dead (und ungefähr hundert andere, über die jeder angeregt redet). Auf Netflix als Big Player wurde nicht zuletzt auch deshalb so gehofft, »weil eine Revolution des deutschen, in sich selbst verwachsenen und erstarrten Fernseh-Behemoths von innen unmöglich erscheint«, so Greitemeier.

    Für eine Qualität, die man von amerikanischen und anderen internationalen Serien gewohnt ist, hat es aber allem Anschein nach erst einmal nicht gereicht. Und zwar teamübergreifend nicht, wenn Netflix zu diesem allgemeinen Urteil über deutsche Erzählqualität gelangt. Nun wissen wir nicht, welche Ideen und Storys die deutschen Bittsteller im Einzelnen für so gut und einzigartig befanden, dass sie internationalen Ansprüchen genügen und damit konkurrenzfähig auf dem internationalen Markt sind. Wir wissen nur, dass Netflix bislang bei seinen hoch gelobten und vielfach prämierten Eigenproduktionen wie der Crime-Comedy Lilyhammer, dem spannenden Politdrama House of Cards oder dem Gefängnis-Comedydrama Orange Is the New Black hohes Qualitätsbewusstsein zeigte und alles richtig gemacht hat.

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    Welche Strategie fährt Netflix in Deutschland?

    Es ist gar nicht so klar, ob Netflix überhaupt dafür brennt, lokale Eigenproduktionen in Deutschland anzukurbeln. Huan Vu, Regisseur der kommenden Lovecraft-Verfilmung Die Traumlande und eines der Gründungsmitglieder des Neuen Deutschen Genrefilms, hat das Gefühl, dass das Unternehmen hier nicht viel mehr als einen »halbgaren Testballon« gestartet hatte, »um Goodwill zu demonstrieren«.

    Dafür spricht zum Beispiel der stete Verweis der Netflix-Sprecher, dass man mit der Sci-Fi-Mysteryserie Sense8 ja bereits eine internationale Produktion in der Entwicklung habe, die explizit auf die Expansionsbestrebungen des Unternehmens zurechtgeschnitten ist: Verantwortlich sind die Wachowski-Geschwister (The Matrix, Cloud Atlas), die eine Story in acht verschiedenen Ländern – darunter auch Deutschland – erzählen. Die deutsche Hauptfigur wird von Max Riemelt (Wir sind die Nacht, Urban Explorer) gespielt, es soll auch in Berlin gedreht werden. Tom Tykwer wird Regie in einer der Episoden übernehmen (wenn auch nicht die in Deutschland, sondern die in Nairobi).

    Huan Vu sieht die Entwicklung in Deutschland nüchterner: »Netflix wird in seinen Marktanalysen feststellen, dass die Deutschen sehr gerne amerikanisches Zeug schauen und sowohl englischen Originalton als auch deutsche Synchronisation akzeptieren. Und aus Deutschland kam im Gegensatz zu Großbritannien, Frankreich oder Skandinavien über lange Zeit nichts Dickes mehr. Das Einzige, was deutsche Sender erfolgreich machen – deutsch verwurzelte Krimis und deutsch verwurzelte Komödien – ist für Netflix nicht so interessant, da sie das nicht in anderen Territorien auswerten können. Das wäre also so, als wenn Mercedes oder Volkswagen vor dem Markteintritt in Nordkorea ein Joint Venture mit dem dortigen Staatsbetrieb für Zugmaschinen eingehen würden. Während es in Frankreich massiv Stunk durch Politik, Establishment etc. gibt und deshalb mit dem Politdrama Marseille sofort eine französische Serie produziert, begrüßt man Netflix hierzulande ja eher wie den rettenden GI anno 1945, der hoffentlich die deutsche Fernsehdiktatur umkrempelt.«

    Dabei spielt es dann auch weniger eine Rolle, dass gerade der deutsche Fernseh- und VoD-Markt als sehr fragmentiert und von mehreren starken Playern besetzt gilt: Maxdome, Watchever, Amazon Prime im Streaming-Segment, dazu das starke Angebot der privaten Sender und der Öffentlich-Rechtlichen mit jährlichen Rundfunkgebühren von über 8 Milliarden Euro. Netflix könnte gerade in Deutschland auf mehr Bindung durch lokale Eigenproduktionen setzen, um sich einen wichtigen Marktvorteil zu sichern. Doch der Streamingdienst will vorerst nicht.

    Dass es Netflix-Chef Reed Hastings jedoch nicht einfach bei den – eigentlich völlig ausreichenden – Begründung belässt, die Vorlieben deutscher Nutzer erstmal zu analysieren, mit Sense8 eine internationale Produktion mit deutschen Anteilen zu produzieren und sowieso erstmal ein bis zwei Jahre abwarten zu wollen, wirft vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen durchaus Fragen auf. Sollen etwa durch die öffentliche Ablehnung deutscher Erzählkunst hierzulande Ambitionen geweckt werden? Oder ist es gar, wie mancher heimlich hofft, vor allem ein Nein zur Denkweise der alten Garde von TV-Filmemachern, die das bisherige System auf Laufen gehalten haben? Autor Stephan Greitemeier sieht in der deutlichen Ansage Netflix’ vor allem ein Signal an »die zweite Generation, die messerwetzend in den Startlöchern steht« – also all jene Autoren, Produzenten und Schauspieler, die mit dem bisherigen System nichts (mehr) anfangen können. Der Glaube an Netflix als game changer bleibt also.

    Auf Mittelmaß konditionierte Autoren

    Deutsche Autoren und Filmemacher diskutieren nicht erst nach der aktuellen Netflix-Klatsche, ob in Deutschland überhaupt genug Handwerk und Übung vorhanden ist, auf internationalem Serienniveau mitzuspielen. »Ich fürchte, dass viele deutsche Produzenten und Autoren, die durch die Mühlen der deutschen TV-Produktion gegangen sind, gar nicht mehr in der Lage sind zu verstehen, was für Netflix internationales Appeal aus macht«, meint Axel Ricke, Regisseur des Sci-Fi-Kurzfilms D-I-M, Deus In Machina (2007) und Produzent bei Lumatik Film. Auch Autor Stephan Greitemeier glaubt: »Die degetoisierten Produzenten sind das Nadelöhr. Sie arbeiten mit degetoisierten Lohnschreibern zusammen, denen zwanzig Jahre Fernsehmarkt jede Innovationskraft ausgepresst haben. Es ist schon bestürzend: Da haben wir nette, clevere Leute, oft mit gutem Geschmack – aber das System hat viele festgefahren und mutlos gemacht.«

    Es geht in diesen Überlegungen um den grundsätzlichen Verdacht, dass das deutsche TV-System über Jahrzehnte Autoren und Produzenten maßgeblich konditioniert hat und hier auch bei besten Absichten schlichtweg nicht die erzählerische Qualität erreicht werden kann, die es international heutzutage braucht. »Da wir national schon seit Jahrzehnten keine Nachfrage in dieser Richtung haben, gibt es hier auch kaum Erfahrung im Umgang mit Geschichten dieser Art«, lässt sich ein deutscher Drehbuchautor in der aktuellen Debatte zitieren. »Ideen gibt es bestimmt viele, nur mangelt es entweder an der Umsetzung, oder man hat kein Vertrauen in die deutschen Autoren und glaubt nicht, dass sie so etwas stemmen können.«

    Vielleicht, so die Befürchtung, erscheint es Netflix schlichtweg zu aufwändig, bei uns erst noch in den Qualitätsaufbau investieren zu müssen. Denn der heimische Markt für Konzepte und Drehbücher verlangt vor allem nach unterkomplexer Unterhaltung. Selbst abseits von den täglichen Soap-Welten schreiben Serien-Autoren in Deutschland vor allem schematische Krimi-Episoden in Kreuzworträtsel-Dramaturgie, seichte Nonnen- und Krankenhaus-Banalitäten oder verschämt-lustige Alltagskomödien, die niemandem wehtun. Immer wieder fällt der Begriff der »Schere im Kopf«, die durch die Konditionierung ob solcher Anforderungen inzwischen so stark sei, dass man sie immer wieder aktiv in seinem Kopf entfernen muss, um auf internationalem Niveau zu denken. Wenn es überhaupt gelingt: »Ich erwische mich selbst immer wieder dabei, wie im Kopf die Schere zuschnappt. Es kostet tatsächlich Kraft, sich von dieser Denke zu lösen. Sehr erschreckend.«, so Regisseur und Produzent Axel Ricke.

    Wie beispielsweise Game of Thrones aussehen würde, wenn es durch die Mangel deutscher Fernsehqualität genommen würde, zeigt dieser Tage anschaulich – und trotz aller Parodie erschrecken authentisch – der folgende Clip von Walulis sieht fern. Ähnliche Assoziationen rief bereits die Ankündigung des ZDFs hervor, ein deutsches Breaking Bad zu produzieren – mit Bastian Pastewka als Geldfälscher im Taunus.

    Auf der Suche nach internationaler Qualität

    Aber stimmt die Einschätzung, deutsche TV-Fiction hätte kein internationales Appeal? Der letzte Bulle (2010-2014), laut Bekundung der Branche eine der besten deutschen TV-Serien derzeit, wurde vom französischen Sender TF1 erfolgreich in bislang zwei Staffeln adaptiert. In den USA wurden vom Letzten Bullen und von Danni Lowinski (beide SAT.1) jeweils Piloten bei TNT respektive The CW getestet. Von Danni Lowinski (2010-2014) gibt es Remakes in Belgien, der Ukraine und den Niederlanden. Der Tatortreiniger (seit 2011) vom NDR wurde bislang in die USA und nach Frankreich verkauft. Und dann sind da doch immer noch der in über 100 Länder verkaufte Derrick (1974-1997) und die Action-Serie Alarm für Cobra 11 (seit 1996), die wohl international erfolgreichste Serie aus deutscher Produktion mit Verkäufen in 150 Länder.

    Hier sind Relationen wichtig. Der internationale TV-Markt ist wegen des kontinuierlich steigenden Bedarfs an erfolgreicher Fiktion in größter Aufruhr. Jeder ist auf der Suche nach dem nächsten Hit. Und so werden sich möglichst viele Rechte an Stoffen aus aller Herren Länder gesichert, ohne dass diese Stoffe – erzählerisch – in der gleichen qualitativen Liga spielen wie 24, Lost oder Orphan Black. Hier müssen wir ehrlich sein: In Deutschland tun sie es nicht. Wenn hierzulande eine Serie – unabhängig von ihren Quoten – als sehr gut und außergewöhnlich gehandelt wird, dann passiert das im Vergleich zum restlichen Angebot im deutschen Fernsehen. Wenn Netflix aber wie in Großbritannien über 125 Millionen Euro für die Serie The Crown über die 60-jährige Regentschaft der Queen auf den Tisch legt, dann mit der klaren Absicht, einen unter Kritikern und beim Publikum weltweiten Tophit in ihr Portfolio aufzunehmen.

    Die Sorge übrigens, dass deutsche Produktionen mit einer Orientierung am internationalen Massengeschmack auf diesen hin normiert werden würden und gerade dadurch lokalen Flair, Atmosphäre und Authentizität verlieren würden, scheint dagegen eher unberechtigt. Ganz im Gegenteil: Lilyhammer-Schöpfer Steve Van Zandt erzählte im Rolling Stone über die Entstehungsgeschichte seiner Serie: »I said to people, ›The way to make this more international is to make it more Norwegian – as Norwegian as we can make it. I want to know every nuance, detail and eccentricity that people might find interesting or different.‹ I also said, ›I want to make Norway a character in this show, because it’s a complete mystery to most people.‹ No one knows a thing about it, so I wanted to reveal it in the best way I could.«

    Auch Reed Hastings sagt in seinem Statement in Blickpunkt:Film nicht, dass sich internationale Serien nicht ›deutsch‹ anfühlen dürfen. Serien wie Lilyhammer, The Crown oder Marseille versprühen gleichermaßen lokale Identität und internationales Appeal. Sie wurden von Netflix in Auftrag gegeben, um die jeweiligen Märkte in Europa – hier also Skandinavien, Großbritannien und Frankreich – zu bedienen und weltweit interessant zu sein. Die Frage, die sich Autoren und Produzenten hierzulande also stellen müssen: Was fühlt sich ›deutsch‹ an und hat ›internationales Appeal‹? Was bietet lokale Qualitäten, ohne dass es sich anfühlt wie das Meiste, was hier provinziell, erstarrt und in jeder Hinsicht unenthusiastisch für das deutsche TV produziert wird?

    Kann Deutschland nur mit seiner Vergangenheit punkten?

    »Die Befürchtung ist, dass weltweit interessante Ideen aus Deutschland alle nur wieder in der Vergangenheit liegen – also wieder Nazi-Stoffe, wieder DDR-Stoffe. All das, wovon wir eigentlich selbst die Schnauze voll haben«, stöhnt ein weiterer Autor. Die Sorge hat eine starke Grundlage: Seit Langem scheinen beispielsweise deutsche Filme nur noch dann Oscar-Chancen zu haben, wenn sie mit einer der beiden deutschen Diktaturen zu tun haben: siehe Caroline Links Nirgendwo in Afrika (2001, Oscar), Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004, Oscar-Nominierung) oder Florian Henckel von Donnersmarck Das Leben der anderen (2007, Oscar).

    Deutschland schickt auch selbst gern Filme mit ähnlicher Thematik immer wieder ins Rennen, wie 2013 gleich im Doppelpack mit Georg Maas’ Nazi-Stasi-Drama Zwei Leben (2012) und Cate Shortlands Endkriegsdrama Lore (2012), auch wenn das für Australien startete. Auch andere hierzulande und teilweise auch international gelobte TV-Produktionen wie Weißensee (seit 2010) und Unsere Mütter, unsere Väter (2013) spielen in genau diesen Welten. Der Verdacht liegt also nahe, dass wir um unsere Vergangenheit kaum herumkommen, wenn wir »weltweit interessante Themen« bedienen wollen.

    Doch der Glaube, im Ausland kommen aufgrund dieser Erfolge ausschließlich Drittes Reich und DDR-Überwachung an, ist vielleicht die größte Schere im Kopf hiesiger Filmschaffender. Keine Frage: Deutschen Produktionen wird eine größere Glaubwürdigkeit in der Auseinandersetzung dieser Topics entgegengebracht. Deutsche Filme insbesondere über den Nationalsozialismus sind sicherlich international auch ein gewichtiges, erfolgsversprechendes Brand. Die starke weltweite Rezeption solcher Storys aus Deutschland hat aber noch einen anderen, vielleicht viel entscheidenderen Grund:

    Aus dramaturgischer Sicht liefern beide Topics von sich aus bereits sehr starke, inhärent eingebaute erzählerische Konflikte. Sie bieten damit also ganz automatisch schon dramatisches Potential. Einmal ungnädig formuliert: Man kann hier als Autor erstmal kaum etwas falsch machen. Vergleicht man die Spannung dieser Filme und Serien mit der Spannung beim Rest des deutschen Fernsehens, dann liegt schnell der Schluss nahe: Mit Naziterror und Stasiüberwachung wird es packend. Ohne eher nicht. Das würde bedeuten: Die Kunst dramatischen Erzählens wird hierzulande tatsächlich nicht wirklich beherrscht und über thematische Krücken wie DDR- und Nazi-Diktatur eher nur kaschiert. Deren Erfolg macht blind für den eigentlichen Zustand hiesiger Erzählqualität.

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    Die internationale Konkurrenzfähigkeit deutscher Stoffe wird sich vor allem dann offenbaren, wenn auch mit anderen Ideen und Konzepten packende Geschichten erzählt werden können. Der Auftrag wäre, etwas zu schaffen, das hier und heute spielt (oder in anderen Welten abseits der etablierten) und den Nerv der Welt und Zeit trifft. Auch Autor und Regisseur Peter Koller, der aktuell mit Spier Films an der Sci-Fi-Politserie Rio Ten arbeitet, versteht die Angst vor der Beschränkung auf rückwärtsgewandte Themen nicht: »Wir leben in einer Topzeit, was Stoffe angeht. Man muss ja nur die Zeitung aufmachen, da gibt es genug international relevante Stoffe: Hamburger 9/11-Zelle, Überwachungsskandale, oder sogar die Verknüpfung mit der Vergangenheit einer Nation, die keinen Krieg mehr will, aber in internationale Konflikte und Waffendeals reingezogen wird, Truppen in Afghanistan, jede Menge Spionage. Da ist von Homeland bis House of Cards so ein breiter Bereich möglich – ich kann mir gar nicht vorstellen, dass so etwas nicht an Netflix herangetragen wurde.«

    Diese breitgefächerten und hochspannenden aktuellen Themen wecken auch bei anderen Autoren Hoffnung: »Gerade in politischen Stoffen liegt eine große Chance, denn aktuelle Politik wird im deutschen Film nicht thematisiert, weil die Branche am Tropf der Politik hängt«, heißt es in Zustimmung auf Kollers Kopfschütteln. Die Hoffnung liegt hier weniger in der Internationalität, sondern mehr darin, dass Netflix dort reingrätscht, wo großer Mangel im deutschen Fernsehen herrscht. Der Fokus auf packende und beim Zuschauer hochgradig beliebte Geschichte solle dem deutschen medialen Status Quo »den Krieg erklären« – und damit den Zuschauer hierzulande emanzipieren von Krimi-Dauerschleife und heiler Jägerzaunhüter-Welt.

    Im Kern geht es also letztendlich einfach immer um sehr gut erzählte Geschichten mit einer einzigartigen Prämisse. Nichts anderes bedeutet nämlich »internationales Appeal«. Die Beispiele dafür, dass internationale Marktfähigkeit und zeitgemäße Themen kein Zauberding sind, sind vielfach: das norwegisch-amerikanische Lilyhammer, die schwedische Roboterdrama-Serie Äkta människor (Real Humans – Echte Menschen), die dänischen Krimiserien Forbrydelsen (The Killing, hier bekannt als Kommissarin Lund – Das Verbrechen) und The Bridge (hier bekannt als Die Brücke – Transit in den Tod), die beide in den USA neu gedreht wurden, die französische Wiederkehrer-Drama-Serie Les Revenants (US-Remake in Arbeit), die israelische Thrillerdrama-Serie Hatufim (Prisoners of War – Vorlage für das US-Remake Homeland) oder die israelische Dramaserie BeTipul (die Vorlage für In Treatment). Sie alle zeigen, dass deutsche Serien-Produktionen längst von kleinen Fernsehnationen überholt wurden. Ach, und House of Cards ist natürlich ein Remake der gleichnamigen britischen Polithriller-Miniserie von 1990.

    Der wichtigste Moment deutscher TV-Geschichte?

    Für die hiesigen Sender ist Netflix’ Zurückhaltung ein Grund zum vorläufigen Aufatmen. Noch müssen sie sich nicht dem modernen Vergleich im eigenem Territorium stellen. Und noch fehlt dem Publikum der Beweis, dass auch mit deutschen Autoren, deutschen Produzenten und deutschen Schauspielern packendes, serielles TV-Erzählkino auf dauerhaft hohem Niveau und losgelöst von sicheren Übungsschauplätzen wie Krimi (Tatort), DDR (Weißensee) oder Drittem Reich (Unsere Mütter, unsere Väter) möglich ist.

    Dass Netflix jetzt zögert, kann aber gleichzeitig die Chance sein, die Zeit zu nutzen und sich auf ein internationales Niveau zu hieven, bevor uns erst die Amerikaner zeigen müssen, wie es geht. Die vernichtende Reaktion des Streamingdiensts auf deutsche Serien-Qualität ist der vielleicht notwendige Spiegel, der deutschen TV-Machern vor Augen führt, wo sie im internationalen Vergleich aktuell stehen. Und soweit zu hören ist: Netflix empfängt auch weiter deutsche Produzenten. Manche der eingereichten Stoffe sind – entgegen der öffentlichen Interpretation – auch noch nicht abgesagt worden. Und es geht Netflix langfristig gesehen womöglich nicht nur ums deutsche Fernsehen, sondern vielleicht auch um Koproduktionen mit dem hiesigen Kino.

    So schnell wird der Streaming-Gigant sein Image als Heilsbringer also nicht los. Doch es besteht die Gefahr, dass sich deutsche Produzenten und Autoren von einem Tropf nur an den nächsten hängen lassen. Dabei könnte jetzt, wo Netflix noch zögert, der vielleicht wichtigste Moment in der neueren deutschen TV-Geschichte sein. Die Zeichen der Zeit lassen eigentlich nur einen Schluss zu: Nationale Produktionen müssten sich in Qualität, Anspruch, Modernität und Zuschauerbegeisterung gegenseitig überbieten wollen. Noch ist Zeit, neue Eigenständigkeit und neues Selbstvertrauen in das eigene Können aufzubauen. Dann muss man künftig auch nicht mehr als Bittsteller an Investoren und Sender herantreten, sondern könnte derjenige sein, von dem Investoren und Sender unbedingt etwas haben wollen und sich gegenseitig in ihren Angeboten überbieten.

    In einer Zeit permanenten Zuschauerschwunds, in der Sender und Content-Anbieter nach starken Marken und Inhalten mit großer Zuschauerbindung suchen, würde das Pushen der erzählerischen Qualität deutscher Fiktion auf neue Level nicht nur ein neu belebtes deutsches Fernsehen generieren. Es wäre auch die Chance, in der dann qualitativ hoffentlich großen Masse genau in größerer Kontinuität jene nochmals herausstechenden Einzelfälle zu finden, die internationales Niveau erreichen und um die uns die Welt beneiden kann.

    Denn die größte Frage ist am Ende: Was hat Deutschland der Welt Spannendes zu erzählen?