Der schwindelerregende 7:1-Halbfinalsieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Gastgeber Brasilien bei der WM 2014 hat Fußballgeschichte geschrieben. Aber es war auch ein Spiel mit eigener Geschichte. Fußball kann uns eine Menge über das Storytelling lehren. So gibt uns ein Vergleich zwischen britischer und deutscher TV-Kommentierung Hinweise auf generelle Schwächen der deutschen Erzählkultur – auch im deutschen Film. Eine Analyse von Katti Jisuk Seo und Mark Wachholz in drei Teilen.
Teil 1: Oceans of Space
Teil 2: A Test of Brazilian Character
Teil 3: Falling Apart
Storytelling im Fußball und im deutschen Film
Fußball bringt von sich aus schon die nötigen Zutaten für eine spannende Story mit sich: Die Identifikation mit einem Team oder einzelnen Spielern emotionalisiert und zieht das Publikum ins Geschehen rein. Das Ziel ist der Sieg, die Bedrohung ist die Niederlage. Einzelne Spieler können in einem einzigen Moment zum Helden aufsteigen oder zum Buhmann einer ganzen Nation verkommen. Tore, plötzliche rote Karten und schwere Verletzungen von unersetzlichen Spielern wenden den Spielverlauf dramatisch. Durch die begrenzte Spielzeit und die zunehmende Erschöpfung der Spieler erhöht sich der Zeitdruck permanent.
Nervenkitzel gibt es also schon gänzlich ohne Fernsehkommentator. Erst recht bei einer Weltmeisterschaft.
In Deutschland wird diese spielinhärente Spannung des Fußballs traditionell durch ein faktisches Beschreiben des Spielverlaufs kommentiert, angereichert mit Statistiken und faktoiden Anekdoten. Bei ZDF-Kommentator Béla Réthy klingt deshalb die Anfangsphase des Fußball-WM-Halbfinales Deutschland gegen Brasilien so: »Maicon. Gewinnt das Duell gegen Özil. Fred. Schweinsteiger. Ganz cool. Gegen Oscar. Kampfbetontes, aber anständiges Spiel bisher. Keine Nicklichkeiten. Toni Kroos. Khedira. Rechts ist Müller. Guter Defensiv-Zweikampf von Marcelo und ein Foul von Thomas Müller.«
Unvermittelt fühlt man sich an trostlose, auf persönliche oder soziale Realität bedachte deutsche Filme erinnert, die von außen auf Menschen und ihre Probleme schauen und sich in minutiösen Alltagsbanalitäten verlieren. Immer rein beobachtend, niemals überhöhend und schon gar nicht wertend. Wer in Deutschland vermeintlich darstellt, ›wie es wirklich ist‹, hat gute Chance auf prestigeträchtige Ehrungen, gilt als künstlerisch wertvoll und authentisch. Nicht nur finden metaphorisches Erzählen und emotional mitreißende, überwältigende Figurenentwicklungen in deutschen Filmen nur noch ungern statt. Es scheint vielmehr so, dass man das hierzulande schlichtweg gar nicht mehr kann.
»Das klingt vermessen, Entschuldigung.«
Die ZDF-Kommentierung des atemberaubenden WM-Halbfinalspiels macht die Limitierungen einer solchen distanziert observierenden Erzähltradition sichtbar: Der deutsche Kommentierungsstil droht schnell banal zu werden oder gar zu verkrampfen, wenn feuerwerksartige Emotionen und fußball-geschichtliche Bedeutungen erfasst werden sollen. Christian Preußer bringt es in der Frankfurter Neuen Presse auf den Punkt, wenn er von einem »sprachlosen Rethy« spricht und schreibt:
»Trotz dieses furiosen Siegs der deutschen Nationalmannschaft hätte sich der Fernsehzuschauer gewünscht, dass zumindest der Kommentator, das Sprachrohr der staunenden Mehrheit, irgendetwas Analytisches, Treffendes, Antwort Bringendes ins Mikrophon erklärte. Irgendeine Erklärung, irgendeine Aufgliederung. Stattdessen flüchtete sich Réthy in eine Sprachlosigkeit, die man dem ansonsten so redseligen ZDF-Mann niemals zugetraut hätte.«
Auch im anschließenden Finalspiel gegen Argentinien scheiterte ARD-Kommentator Tom Bartels daran, die Bedeutung des Ereignisses in Worte zu kleiden. Kein Wunder: Vom Handelsblatt vor dem Spiel befragt beschreibt Bartels, worauf bei ihm der Fokus der Kommentierung liegt: »Statistisches Material muss dosiert eingesetzt werden. Ich lege mehr Wert auf Analyse und Hintergrund-Infos, etwa über die Art, wie Eckbälle getreten werden« und »Für mich ist es wichtig, dass ich bei der Bewertung der einzelnen Spieler und der Szenen richtig liege.« Auch hier geht es also darum, ›richtig zu liegen‹, zu beschreiben, ›wie es sich tatsächlich zuträgt‹. Im deutschen Film ist das nicht anders. Dadurch sind deutsche Kommentatoren (und Filmschaffende) gefangen in einer Haltung, in der Überhöhung, Mitgerissenheit und Narrativierung (also das Übersetzen in eine Geschichte) nicht nur unbekannt sind, sondern sich in der Regel explizit verbieten.
Wie beim deutschen Film hat diese Angst vor emotionalem Reinziehen auch in der Sportberichterstattung schon lange Tradition: Als Karl Heinz Rummenigge im WM-Finale 1986 den überraschenden 1:2 Anschlusstreffer für Deutschland gegen die führenden Argentinier erzielte, ließ sich Kommentator Rolf Kramer (dessen Assistent Réthy zu jener Zeit war) unvermittelt zu einem mitfiebernden »Und dann Zugabe!« hinreißen, nur um über sich selbst erschrocken sofort zurückzurudern: »Das klingt vermessen, Entschuldigung.«
Doch was macht die Kommentierung eines Sportereignisses bei der BBC mitreißender als im ZDF? Wie setzen die Briten Mittel des Storytellings ein? Und was können wir daraus über die Mechanismen packenden Geschichtenerzählens im Allgemeinen und die Pathologie der deutschen Film-Erzählkultur im Speziellen lernen?
In folgenden ersten Teil Oceans of Space entschlüsseln wir anhand des britischen Kommentierungsstils Grundprinzipien des Spannungsaufbaus. In Teil 2: A Test of Brazilian Character zeigen wir dann, wie aus Sicht der BBC-Kommentatoren die ›Story‹ des Spiels von einem Tor zum nächsten immer wieder eine neue, starke Richtung bekommt. In Teil 3: Falling Apart illustrieren wir schließlich, warum thematische Konflikte zentral für eine packende Geschichte sind.
Oceans of Space
Es ist die 8. Minute dieses »super heavyweight semifinal«, als die BBC-Kommentatoren Martin Keown und Steve Wilson erstmals den »great big space« in den Abwehrreihen der brasilianischen Mannschaft bemerken. Diese Leerräume, diese »oceans of space«, werden den Brasilianern innerhalb der kommenden zwanzig Minuten das Rückgrat brechen. Das ist der Beginn einer dramaturgisch mitreißenden und thematisch konfliktreichen Story, mit der die beiden Kommentatoren das Spielgeschehen über 90 Minuten und mehrere Akte narrativieren.
Suspense: Spannungsaufbau durch Vorausschau
Weil die BBC-Kommentatoren dem Zuschauer schon früh immer wieder die freien Räume in der brasilianischen Abwehr benennen, beweisen sie nicht nur größere spielanalytische Kompetenz, sondern bauen vor allem früh Spannung auf. Genauer Suspense – die ›(An-)Gespanntheit‹, die entsteht, wenn man mehr weiß als die Beteiligten. Alfred Hitchcock hat den Begriff geprägt mit dem Beispiel von der tickenden Bombe unter dem Tisch, von der die Menschen am Tisch nichts wissen – wir als Zuschauer aber schon.
Suspense ist eine Ahnung in die Zukunft – ein Potential, was als Nächstes passieren kann. Diese Vorahnung wirft bei uns als Zuschauer automatisch Fragen auf, für deren Beantwortung wir uns brennend interessieren. Das involviert uns unmittelbar ins Geschehen. Die mehrfachen Hinweise der Briten auf die offenen Räume (»lots of spaces«, »acres of spaces«, »oceans of spaces« und schließlich sogar »all kinds of space«) erzwingen Fragen wie: Werden die Deutschen diese Räume nutzen? Werden sie sie überhaupt erkennen? Werden die Brasilianer sie wieder schließen? Und haben die deutschen Spieler vielleicht schon lange vor diesem Spiel von dieser Schwachstelle des Gegners gewusst?
Der deutsche Kommentar bemerkt zur gleichen Zeit im ZDF nichts dergleichen. Béla Réthy sieht diese großen Räume und die sich daraus entwickelnde Spannung nicht kommen. Dadurch ebnet er auch keinen Spannungsweg für die kommenden Ereignisse im Spiel. Stattdessen beschreibt er weiter faktisch das Spielgeschehen und zählt lang- und kurzhistorische Fakten auf.
Frage und Antwort als Schlüssel dramatischer Spannung
Die Konstitution des menschlichen Geistes, Ungleichgewichte und Probleme lösen zu wollen, ist einer der Hauptgründe, warum uns Geschichten packen. Das Frage-Antwort-Schema baut als Muster dieser geistigen Problemlösungsprozesse dramatische (also erzählerische) Spannung auf und führt uns durch die Geschichte.
Diese Fragen müssen nicht als tatsächliche Fragen formuliert werden – alles ist eine ›Frage‹, das durch eine Projektion in die Zukunft im Kopf des Zuschauers Fragen aufwirft. Wenn der BBC-Kommentator kurz vor Anpfiff beschreibt: »A horribly long pause for the players to sit and dwell. And the man on the near touchline in a FIFA blazer has his arm raised, and no one can do anything before the arm drops …«, dann wird für einen Moment ein Zeitfenster in die Zukunft geöffnet mit der Frage: Wann endlich lässt er den Arm fallen? Wann beginnt das Spiel? Keinen Augenblick später löst der Kommentator die Spannung auf: »And drop it does.« Eine solche griffige Übersetzung der Angespanntheit des Zuschauers bleibt bei Béla Réthy vollends aus.
Das Prinzip von Suspense, Vorausschau und Frage-Antwort-Muster zieht sich auf allen Ebenen durch den britischen Kommentar und sticht im Vergleich zum deutschen Kommentar als besonderes Stilmittel heraus. Ein willkürliches Beispiel: Als die Brasilianer in der 10. Minute (kurz vor dem ersten Tor der Deutschen) über die linke Flanke angreifen, vertändelt der linke Außenverteidiger Marcelo beim Angriff den Ball. Der BBC-Kommentator beschreibt die Szene so: »Marcelo in danger of losing it [den Ball]. Has Khedira. Miroslav Klose is in the middle, Khedira’s ball in … Off Marcelo. First German corner in the game.«
Dass Marcelo hier den Ball zu verlieren droht, ist ein Mini-Spannungsbogen inmitten einer einzelnen kurzen Spielszene und wird sofort mit Sinn für Dramaturgie kommentiert. Eine einzige Formulierung triggert Fragen in unseren Köpfen: Kann Marcelo die Kontrolle behalten, oder wird Khedira ihm den Ball abnehmen? Wird Khedira das Zuspiel zu Klose gelingen? Die Antwort kommt gleich: Im letzten Moment prallt der Ball an Marcelo ins Aus, Klose geht leer aus. Es bleibt vorerst beim 0:0. Wir werden hier mit jedem Schritt in das Geschehen involviert – gerade noch rechtzeitig, denn es ist die Ecke zum ersten Tor für Deutschland …
Spannungsarmut durch Rückwärtsgewandtheit
Beim ZDF erlebt der deutsche Zuschauer die Szene dagegen so: »Hulk hat sich für die linke Seite jetzt entschieden. Bernard rechts. Khedira. Müller. Drei gegen drei. Khedira, und Marcelo zur Ecke.« Statt zu antizipieren, was als Nächstes geschehen könnte, nämlich »Marcelo in danger of losing [the ball]« (Vorausschau in die Zukunft und damit Steigerung der Spannung), erklärt Béla Réthy immer lieber in starker Rückwärtsgewandtheit, was bereits geschehen ist (faktische Aufbereitung des Vergangenen).
Das führt dann dazu, dass Réthy einen taktischen Flügelwechsel von Hulk und Bernard beschreibt, während eigentlich Marcelo gerade in einem kritischen Moment den Ball verliert und die deutsche Mannschaft zum Konter ansetzt. Wenn Réthy das Spielgeschehen einholt, ist das Spannungspotential des Moments, die brennende Frage, was als Nächstes geschehen wird, schon längst wieder verflogen.
Natürlich blicken auch die Briten auf bereits vergangene Szenen zurück. Doch ihr (innerer oder antrainierter) Drang nach spannender Kommentierung geht dann teilweise so weit, dass selbst Geschehenes extra nochmal erst als Frage gestellt und dann beantwortet wird: Nach dem ersten Tor des völlig ungedeckten Müllers in der 11. Minute heißt es bei Béla Réthy einfach nur »Er war völlig frei.« (Also ungedeckt) Bei den Briten dagegen: »Who picked him up? No one picked him up!« (Also: Wer hat ihn gedeckt? Niemand hat ihn gedeckt!)
Die Angst des Geschichtenerzählers vor der persönlichen Interpretation
Im deutschen Kommentar liegt der Fokus darauf, dem Zuschauer zu erklären, was passiert ist, und nicht, was passieren wird. Das erinnert einen an den deutschen Film: In seiner Topic-Auswahl wendet sich dieser auffällig gern der Vergangenheit zu, während Geschichten über die Zukunft seit Jahrzehnten keine Konjunktur haben. Aber auch in der Art des Geschichtenerzählens selbst kann ein bevorzugt observierender Blick eben nunmal nur das festhalten, was er sieht bzw. bereits gesehen hat, nicht aber, was sich in die ungewisse Zukunft hineinlesen lässt. Vielleicht wissen wir deshalb in deutschen Filmen oft nicht genau, was ein Protagonist eigentlich genau will, während wir um so mehr von seinem Hier und Jetzt oder von seinem (gern schuldgetriebenen) Kampf mit Schatten der Vergangenheit erfahren.
Warum fällt es uns so schwer, Frageräume in die Zukunft zu öffnen, wie es die BBC-Kommentatoren hier tun? Nun, es ist ein Risiko. Man mag mit der Prognose womöglich vollkommen falsch liegen. Wer jedoch Sklave einer Angst vor dem Falschen ist und wenn Überhöhung und Entführung in unbekannte Welten nicht mehr Teil der kulturellen Erzähltradition sind, bleibt fast zwangsläufig nur noch, Fakten des Vergangenen abzubilden – dort, wo schon alles unabänderlich geschehen ist. Diese Richtigkeitsfixierung aus Angst vor Vermessenheit scheint typisch für deutsche Erzählkultur.
Fragen und Ausblicke in die Zukunft stellen dagegen dramatische Hypothesen auf. Es sind nach vorn, ins Ungewisse gerichtete Interpolationen und Interpretationen des aktuellen, aber genauso auch des vergangenen Geschehens und der handelnden Figuren.
Auch Béla Réthy fehlt in seiner Spiel-Kommentierung der Mut für Interpretation und Vorahnung. Einmal macht er es doch – bei der Ecke, die in wenigen Augenblicken zum Tor führen wird. Er erinnert sich an Mats Hummels’ Kopfballtor im vorangegangenen Viertelfinalspiel gegen Frankreich und zieht hier durch den Blick auf die Vergangenheit endlich mal interpretatorisch mutig Schlüsse, was als Nächstes passieren könnte: »So, wo ist Hummels? Das wär’ so’n Ball wieder: Kroos, Hummels, Tor. Bei Dante ist er.« Sofort baut sich in dieser Szene Spannung vor dem Moment der ›Beantwortung‹ auf. Wird es Hummels wieder schaffen, den Ball per Kopf ins Tor zu schmettern? Dass dann gar nicht Hummels zum Zug kommen und stattdessen überraschend Müller das Tor machen wird, tut der Spannung in diesem Moment überhaupt keinen Abbruch, im Gegenteil.
Relationen und Kontraste zwischen Frage und Antwort
Es ist nicht wichtig, dass Hypothesen wie »Marcelo in danger of losing [the ball]« oder die Antizipation eines weiteren Hummels-Tores tatsächlich eintreten. Es reicht, wenn sie zum Zeitpunkt der Annahme glaubwürdig hergeleitet werden. Die Spannung resultiert nicht aus der Richtigkeit, sondern aus dem Vorgang der Überprüfung ihrer Richtigkeit.
Im klassischen Whodunit-Krimi ist diese Hypothesenbildung das zentrale Erzählprinzip: Ein Verdächtiger wird eingeführt – und meist war er es nicht. Das macht aber nichts, denn die Spannung entsteht im Prozess der Überprüfung dieser Figur als Täter, und sie nimmt nicht ab, wenn wir erfahren, dass er es nicht war. Die gesamte, überbordende deutsche TV-Krimi-Landschaft baut erzählerisch einzig und allein auf diesem einen Spannungsprinzip auf.
Tatsächlich führt das Irren sogar zu einer weiteren Spannungssteigerung und Überraschung – denn die Frage nach dem Täter steht immer noch im Raum. Die zwischenzeitliche Beantwortung, dass es Figur X schon mal nicht war, erzeugt einen großen Kontrast zur aufgestellten Hypothese: Alle Indizien deuteten auf ihn – wenn er es nicht war, ist das Rätsels Lösung ja noch viel komplizierter.
Kontraste sind ein Kernelement guten Geschichtenerzählens. Das Zauberwort dazu heißt Relation. Relation erzeugt Kontrast. Wir können das Gewicht eines Storyelements erst erfassen, wenn es ins Verhältnis zu einem anderen gesetzt wird. Die Einkaufstüte fühlt sich erst leicht an, wenn ich vorher eine schwere getragen habe. Man kennt das als Binsenweisheit, wenn von ›gegensätzlichen Figuren‹ die Rede ist oder von ›entgegengesetzten Zielen von Protagonist und Antagonist‹. Doch letztendlich sollten alle Elemente einer Geschichte auf jeder Ebene, auch im Kleinsten, ständig in Kontrast zu ihren Gegenteilen, Vorgängern oder Vorzuständen gesetzt werden.
So kommt auch die gesuchte Entspannung durch eine ›beantwortende‹ Szene überhaupt nur erst dann auf, wenn vorher eine Anspannung durch Fragestellung erzeugt wurde. Erst dann erhalten die Antworten (also das, was im Spiel oder Film dann tatsächlich passiert) echtes dramatisches Gewicht. Deshalb wirken so viele Filme auch ›wie nachgemacht‹: Sie kopieren aus Vorbildern erfolgreiche, coole, funktionierende (Antwort-)Szenen, übersehen dabei aber, dass diesen Szenen meist ein komplexer akribischer Aufbau in Form von dramatischen Fragen vorausging.
Das Benennen von Intentionen
Figuren sind die zentralen Träger der Story. Je mehr wir wissen, was sie antreibt, was sie wollen und was sie zu verlieren haben, desto mehr können wir uns in sie hineinversetzen – und fiebern mit dem mit, was sie tun. Im Kommentierungsstil der Briten wird deshalb noch ein weiteres wichtiges Spannungsmittel des Frage-Antwort-Schemas sichtbar: das konkrete Benennen von Intentionen.
Als die Brasilianer in der 17. Minute einen starken Angriff in die deutsche Hälfte treiben und Marcelo vom linken Flügel mit dem Ball in den Strafraum stürmt, stellt sich ihm der Abwehrspieler Philipp Lahm entgegen. Die BBC-Kommentatoren sagen: »Marcelo trying to get behind Lahm.« Im Deutschen kommentiert Béla Réthy: »Marcelo gegen Lahm.«
Auffällig ist, wie routiniert der britische Kommentar bei Aktionen der Spieler Intentionen benennt bzw. ihnen Intentionen unterstellt. Jede Aktion eines Spielers bekommt so eine konkrete Richtung zugewiesen: Marcelo »is looking for a free kick there«, als er gefoult wird (9. Minute, bei Réthy heißt es einen Moment später nur: »Freistoß«). Als Miroslav Klose im Zweikampf David Luiz umrempelt, heißt das bei den Briten sogar: »I think he’s just letting him know ›Don’t take liberties in possession, because I’ll take it off you‹.« (10. Minute, Réthy: »Guck mal hier: Mit 36 Jahren voller Einsatz gegen den robusten David Luiz.«)
Bei der Benennung von Intentionen wirken nicht nur die bislang erwähnten Erzähleffekte des Spannungsaufbaus – also Suspense, Vorausschau, Frage-Antwort-Schema und Hypothese (z.B.: Wird es Marcelo schaffen, an Lahm vorbeizuziehen?). Es findet auch eine konkrete Bedeutungsgebung statt. Damit wird der jeweilige Spieler zu einer dramatischen Figur, die mit distinkten Zielen und Absichten ausgestattet wird. Im Fall von Kloses Umrempeln des brasilianischen Abwehrspielers David Luiz unterstellen die Briten diesem Vorfall eine nicht gerade nette Bedeutung. Es ist kaum vorstellbar, dass sich ein deutscher Kommentator ohne Scheu so tief in den Kopf eines Spielers wagen würde. Das ginge nur, wenn man das, was man kommentiert, nicht als Faktenbeschreibung versteht, sondern als Storymaterial.
Bei der Kommentierung eines Live-Ereignisses gehören Mut und erzählerisches Können dazu, im Voraus Fragen zu stellen, statt immer erst abzuwarten, was passiert. Intentionen von Spielern zu benennen, ist Interpretationsmut. Das Gegenteil ist, sich auf Fakten zurückzuziehen, weil man vor Interpretation und Bedeutungsgebung zurückschreckt und lieber ›neutral‹ sein will bzw. wie Tom Bartels (siehe oben) auf Richtigkeit fixiert ist. Direkt nach dem ersten Tor von Müller kommentiert Béla Réthy: »Da war eine kurze Pause bei Müller, weil der Schiedsrichter eine missverständliche Geste gemacht hat, aber der Treffer zählt!« Müllers Frage wird hier erst benannt, als sie schon beantwortet ist – und auch gar nicht erst gestellt. Als Intention formuliert, hätte man stattdessen sagen können: »Müller will wissen, ob sein Treffer zählt – er zählt!«
Wie wichtig Bedeutungsgebung und Bedeutungszusammenhänge für gutes Storytelling sind, wird noch einmal ausführlicher im demnächst kommenden Teil 2: A Test of Brazilian Character behandelt, wenn wir anhand der fallenden Tore den ›Storyverlauf des Spiels‹ aus Sicht der BBC-Kommentatoren nachzeichnen.
Figuren-Intentionen erzeugen Bindung
Figurenintentionen sind relevant für das Identifizieren des Zuschauers mit der Figur. Durch konkrete Benennung einer Intention identifizieren wir uns als Zuschauer viel stärker mit der Figur und wissen, welche konkrete Gefahr droht – wir können uns in Lahm hinein versetzen und fühlen, dass die Gefahr nicht einfach nur »Marcelo« ist, sondern »Marcelo will hinter mich gelangen«. Zuschauer sollten deshalb auch in jeder Szene eines Films wissen, was eine Figur in diesem Augenblick will oder was ihr droht. Wenn wir wissen, in welche Richtung wir zu hoffen haben, können wir stärker mit der Figur mitgehen. Wenn wir auf der Gegenseite stehen, wissen wir, was wir zu befürchten haben und aus welcher Ecke die Gefahr kommt.
In einem Horrorfilm beispielsweise reicht es nicht, wenn einfach nur ein unheimlicher Gegner auftaucht. Béla Réthy würde den einfach kommentieren mit »Vampir« oder »Mann mit Hammer gegen Frau«. Zeigen wir aber konkrete Intentionen bei Monstrum und Opfer (z.B. wie die Fotografin verbissen versucht, das beste Bild vom Untier zu bekommen, während sich dieses bereits so leise wie möglich von hinten an sie heranschleicht), stellen wir den Zuschauer auf die Seite der Protagonistin, mit der er gewillt ist, mitzugehen. Genauso wird das Gefühl von Gefahr größer, wenn wir um die konkrete, augenblickliche Intention des Gegners wissen. Gefahr ist mehr als »Marcelo gegen Lahm«. Wir wollen wissen, woher der Gegner kommt und was er Bestimmtes erreichen will.
Stakes: Je höher der Einsatz, desto packender der Konflikt
Gehen wir noch einmal kurz zurück zu Marcelo und das »He is in danger of losing [the ball]« in der 10. Minute, kurz vor dem ersten deutschen Tor.
Das ist noch mehr als nur eine Vorausschau und ein Potential, was als Nächstes passieren kann. Den Ball zu verlieren, steht hier auf dem Spiel. In der Erzähltheorie sind das Stakes – der ›(Spiel)Einsatz‹, wenn man so will, das, was man als Risiko einsetzen muss und verlieren kann auf dem Weg zum Ziel. Erst diese Fallhöhe einer Aufgabe macht aus einem potentiellen Konflikt einen dramatischen Konflikt. Erst die Fallhöhe macht aus einem Ungleichgewicht ein dramatisches Problem. Und erst die Fallhöhe gibt Auskunft darüber, dass das Ziel (des Spiels oder der Story) nur schwer zu erreichen und der Weg dorthin damit erzählenswert ist.
Ohnehin sind dem Zuschauer die großen Stakes in einem solchen Spiel bekannt: Wer das Halbfinale gewinnt, kann ins Finale einziehen und hat eine reale Chance, Weltmeister zu werden. Wer verliert, dem bleibt das ungeliebte, prestigelose Spiel um Platz 3. Aber die Stakes lassen sich hier für beide Mannschaften noch viel konkreter benennen: Von Brasilien wird nicht weniger als der Titel erwartet – erst recht bei der WM im eigenen Land. Der Stolz einer ganzen Nation hängt daran, dass die Nationalmannschaft im Finale im mythisch aufgeladenen Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro spielt. Dort sollen sie die Trophäe in die Höhe reißen und ein nationales Trauma (den Verlust der WM 1950 im eigenen Land) überwinden. So zumindest wurde es gern in den Medien vermittelt.
Auch die deutsche Mannschaft hat hohe Stakes: In den letzten Turnieren ist man sehr oft kurz vor dem Titelgewinn gescheitert – wird das jetzt wieder geschehen? Es gibt diese oft zitierte ›Goldene Generation‹ an Spielern, deren ›Wert‹ sich aber nur über den Sieg eines Turniers bestätigen kann. Es reicht nicht, um die faktische Qualität dieser Mannschaft zu wissen – nur ein Titelgewinn beweist das. Bei einer Niederlage droht sie, ›unvollendet‹ zu bleiben. Und dann gibt es noch die Chance, als erste europäische Mannschaft auf dem amerikanischen Kontinent Weltmeister zu werden.
In der Storywelt eines Ereignisses wie der Fußball-WM sind das hohe, weil bedeutungsvolle Stakes. Die Vorberichterstattung benennt diese Stakes zwar in der Regel sehr ausführlich in beiden Ländern. Doch die britische Kommentierung schafft es, auch in einzelnen Szenen im Spiel Stakes zu setzen und so zusätzlich zu den bereits etablierten Stakes neue dramatische Fallhöhen aufzubauen.
Die Bombe tickt
Damit eine Geschichte packend ist, müssen auch Stakes immer klar benannt bzw. illustriert werden – es reicht nicht, wenn sich der Zuschauer sie ja mitdenken kann. Je konkreter Ziel und Fallhöhe formuliert werden, desto mehr lässt sich für den Zuschauer erschließen, was das Erreichen des Ziels und die möglichen Opfer und Niederlagen wirklich bedeuten und wert sind.
Béla Réthy bleibt in seiner Anmoderation des Spiels dagegen vage und plattitüdenhaft: Da ist von einem »eher emotionalen Klassiker« die Rede (weil sich statistisch Brasilien und Deutschland bei Weltmeisterschaften »so gut wie nie begegnen«). Es »klingt irgendwie nach Endspiel«. Die meiste Zeit wendet er auf Namensaufzählungen, das harte Zweikampfverhalten der Brasilianer und die Rolle der Schiedsrichter auf und benennt, aus welchem europäischen Club welcher brasilianische Spieler kommt.
Auch die britischen Kommentatoren nehmen sich am Anfang Zeit für Statistiken und Faktenaufarbeitung, während die Teams sich aufstellen. Doch kurz vor Anpfiff des Spiels formuliert Steve Wilson noch einmal kurz und knapp, worum es in den kommenden 90 Minuten erzählerisch geht: »Who is heading to the Maracanã? Brazil, yet to play in Rio. They must be hungry there to welcome their team. Will they get the opportunity, or will it be Germany through to the final again?«
Die Antwort kennt zu diesem Zeitpunkt niemand. Brasilien ist sogar leicht favorisiert. Aber bereits in den ersten Minuten werden wir im BBC-Kommentar erfahren, dass unter den Füßen der Brasilianer eine Bombe tickt. Es gibt eine alte Hollywoodregel: »If you bring a gun, you must use it.« So wird auch diese Bombe im Spiel hochgehen. Gleich siebenmal.
Wie aus einem Fußballspiel eine spannende Story wird – dazu mehr in Teil 2: A Test of Brazilian Character
Katti Jisuk Seo & Mark Wachholz