1. Dark Drama – Teil 5: Deep Theory und Entwicklungspotentiale

    10.01.2014 ///

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    In Teil 4 von Höllentrips aus der Postmoderne von Mark Wachholz haben wir die weitere Filmgeschichte von Dark Drama seit den 60ern bis heute verfolgt. Im abschließenden Teil tauchen wir etwas tiefer in postmoderne Theorie und untersuchen einige grundlegende gesellschaftliche und psychologische Mechanismen, die hinter den Stilelementen des Genres liegen. Unsere Reise durch die Labyrinthe von Dark Drama endet mit Gedanken zu den Potentialen des Genres allgemein und für den deutschen Genrefilm im Speziellen.
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    Teil 1: Was ist Dark Drama – Einführung und Hauptfigur
    Teil 2: Stilmittel und Spezialformen von Dark Drama
    Teil 3: Dark Drama Filmgeschichte: 20er bis 50er
    Teil 4: Dark Drama Filmgeschichte: 60er bis heute
    Teil 5: Deep Theory und Entwicklungspotentiale von Dark Drama
     

    Dark Drama – Deep Theory

    Die in den vorangegangenen Teilen zusammengetragenen narrativen, deskriptiven und filmhistorischen Merkmale von Dark Drama lassen sich in ihrem Ursprung und ihrer Wirkungsweise durch die Erkenntnisse kulturwissenschaftlicher Gedankengebäude der letzten zwei Jahrzehnte näher erklären.

    Im Folgenden soll deshalb gezeigt werden, welche konkreten Mechanismen hinter dem Genre Dark Drama aus einer literaturwissenschaftlichen bzw. filmtheoretischen Perspektive identifiziert werden können. Besonderer Dank ist dabei Swantje Möller geschuldet, die in ihrer Arbeit Coming to Terms with Crisis: Disorientation und Reorientation in the Novels of Ian McEwan (2011) einen hervorragenden Überblick zu Modellen von Identitätsbildung in der Postmoderne in Form einer zeitgenössischen narrative identity theory gegeben hat.

    Ursprünge postmoderner Identitätsspaltungen

    Dark Drama ist ein Kind der Postmoderne. (In der Wissenschaft unterscheidet man konkreter zwischen »Postmoderne« – der intendierten kulturellen, philosophischen und künstlerischen Gegenbewegung zur Moderne – und »Postmodernität« – der historischen, politischen und gesellschaftlichen Ära, in der diese kulturelle Bewegung stattfindet.) Stand die Moderne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs noch für Ordnung und Utopie und den Glauben an große Wahrheiten (›metanarratives‹), manifestierte sich in der Postmoderne ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine crisis of reprensentation, »a deeply felt loss of faith in our ability to represent the real […] The representations we used to rely on can no longer be taken for granted«.

    Die festen Ordnungsmäßigkeiten der Moderne begannen sich aufzulösen, wurden als Einbildung oder Konstruktion empfunden, bestimmt von permanentem Wandel. »Nothing is static. Everything is falling apart.«, wie es in Fight Club heißt. Die Postmoderne kennt keine alleingültige Bedeutung der Dinge mehr. Daher werden der Postmoderne gern Beliebigkeit und Nihilismus attestiert, sie würde jede Antwort verneinen und Antwortlosigkeit predigen. Die Postmoderne verneint jedoch nur eine universelle Wahrheit – und erkennt dafür aber die Koexistenz verschiedener Erklärungsmodelle an. Diese »radikale Pluralität« – also mehrdeutige Erklärungsmuster und Handlungen – ist konstituierende Basis der postmodernen Gesellschaft.

    Durch diese Prozesse werden auch die Parameter von Identität instabil und zeitlich begrenzt und durch Zufall und Vielgestaltigkeit charakterisiert. Charles Taylor spricht von »inescapeable frameworks« oder »horizons of significance«, innerhalb derer wir uns selbst definieren, die jedoch zu existieren aufhören durch »dissipation of our sense of the cosmos as a meaningful order«. Jean Baudrillard nennt dies »disappearance of the referential universe« – zur gleichen Zeit, als sich bereits im Mainstream-Film klassische Erzählformate aufzulösen begannen (siehe 1990er: Mindfucks im Mainstream in Teil 4). Slavoj Žižek schlussfolgert: »It’s the most terrifying thing, when all of your coordinates of reality disintegrate.« Wo Bezugspunkte wegfallen und eine Abwesenheit von etablierten Normen und Werten entsteht, gerät auch das Individuum in seiner Selbstkonstituierung in eine Krise.

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    Nach Baudrillard haben wir deshalb damit begonnen, »Parallele Universen« zu erschaffen, um mit der zunehmend unklar definierten Realität umzugehen und uns neue – virtuelle – Referenzpunkte zu formen. Es liegt nahe, dass in Folge dessen doppelte Identitäten, Identitätsspaltungen und Auflösungen der einen realen Identität entstehen. Diese »Parallelen Universen« zeigen sich besonders signifikant in der Computertechnologie. In einem Interview zum Neurotechnologie-Report 2012, der sich mit der zunehmenden Verschmelzung von Mensch und Maschine, von Gehirn und Computer, befasst, findet der Soziologe Roland Benedikter Worte, die auch den grundlegenden Konflikt von Dark Drama gut beschreiben:

    »[Das] bisherige Menschsein [steht] zumindest in Teilen zur Disposition. Was man bisher als menschliche Identität, als menschliche Verfassung (conditio humana), als ›Ich‹ begriffen hat, wird zunehmend in Frage gestellt, wenn sich die Einheit von körperlicher und geistiger Präsenz des Menschen in Raum und Zeit auflöst. Die Bewusstseinsindustrie will den Menschen entkörperlichen, um seine Freiheit zu steigern. Aber niemand weiß, was dabei mit diesem Menschen, vor allem: mit seinem Selbstbild und seinem Selbstverständnis geschehen wird.«

    Unsere Identität ist in der heutigen Zeit also in besonders heftiger Weise in Fragmentierung und Zersplitterung begriffen. Sie befindet sich in ständiger Auflösung und zerbrechender Vervielfältigung. Die daraus folgende zunehmende Schwierigkeit (oder gar Unmöglichkeit) der eigenen Identitätsbestimmung und die daraus folgende Angst bilden den narrativen Kern von modernem Dark Drama. Der Verlust der eigenen Identität – in der Realität nicht nur in zunehmenden Depressionen und psychischen Krankheiten manifestiert, sondern auch in der Bedrohung durch zunehmende Demenzkrankheiten wie Alzheimer – ist der größtmögliche Schrecken für jedes Individuum. Deshalb sind die Protagonisten im Dark Drama auch meist Alltagsfiguren (siehe Teil 1).

    Die Erosion der eigenen Identität ist eine besonders starke erzählerische Kraft, die enormen Effekt selbst auf jene Zuschauer ausüben kann, die inzwischen mit dem Motivinventar zum Beispiel des Horrorfilms vertraut sind. Wie in Du bist dein eigener Feind (siehe Teil 1) beschrieben, kommt die Bedrohung im Dark Drama von innen und kann – im Gegensatz zu anderen Genres – nicht mehr durch äußere Barrieren und physische Gegenmaßnahmen aufgehalten werden.

    Identitätskonstruktion durch Narrativierung und Sinnstiftung

    Identitätsbildung erfolgt in der Postmoderne nicht mehr durch Impulse, Rahmen und Ideologien von außen. Weil sich diese vielmehr in stetem Fluss befinden (»pluralism of authority«) und somit die Orientierung des Individuums erschweren, tritt zur Konstituierung des eigenen Selbst die eigene, individuelle Sinnstiftung an vorderste Stelle (»centrality of choice«). Charles Taylor sagt: »My identity is defined by the commitments and identifications which provide the frame or horizon within which I can try to determine from case to case what is good, or valuable, or what ought to be done, or what I endorse or oppose.«

    Damit ist Identität ein Konstrukt, das sich unter mangelnder Kontinuität und dem permanenten Wandel von Gesellschaft und Werten in ständig neuer Revision und Rekonstruktion befinden muss. Die einzige Konstante des Ichs scheint die unstillbare Suche nach Identität zu sein.

    Folgt man den Thesen der Vertreter der narrativ identity theory, wird der eigene Identität-Konstruktionsprozess maßgeblich von der Fähigkeit zur Narrativierung (narrativization) unseres eigenen Lebens, unserer eigenen Biographie und unserer eigenen Lebensumstände bestimmt. Anthony Giddens nennt es »an autobiography […] in the broad sense of an interpretative self-history produced by the individual«, für Linda Hutcheon ist es »imposition of meaning and formal coherence on the chaos of events«.

    Im Kern geht es also darum, das eigene Selbst durch Narrativierung immer wieder neu zwischen Vergangenheit und Zukunft zu verankern. Mit Hilfe von Erinnerungen und Vorstellungskraft interpretieren wir unser eigenes Leben immer wieder neu und erschaffen uns dadurch auch in gewisser Weise immer wieder eine neue Vergangenheit und eine neue Zukunft.

    Im Kampf gegen Kontingenz, Chaos und steten Fluss der Postmoderne kann das Individuum nicht mehr auf Fakten zurückgreifen, sondern muss selbst zugewiesene Bedeutung und Sinn finden, also Interpretation. Viele Protagonisten im Dark Drama haben deshalb Probleme damit, ihre eigenen Erinnerungen zu ordnen, ihnen zu trauen – und sie zu deuten.

    In Filmen wie Persona, Jacob’s Ladder, Perfect Blue, Memento, Donnie Darko, Mulholland Dr., Eternal Sunshine of the Spotless Mind oder Upstream Color kämpfen die Hauptfiguren (und mit ihnen der Zuschauer) mit fragmentierten Erinnerungen. Sie können nur dann Erlösung finden, wenn sie nicht die Fakten geordnet haben, sondern diesen einen eigenen, persönlichen Sinn gegeben haben. Dies macht das gefühlt Versöhnliche von Filmen wie Donnie Darko oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind aus.

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    Zerstörung und Neuordnung

    Dark Drama versteht dabei, dass für eine Rekonstruktion von Antworten zunächst der Zerfall erfolgen muss. Fragmentierung als Grundlage kommender Antworten. In Donnie Darko schließt Donnie aus Graham Greenes The Destructors (1954): »Destruction is a form of creation.« Oder, um das oben präsentierte Zitat aus Fight Club vollständig wiederzugeben: »Only after disaster can we be resurrected. It’s only after you’ve lost everything that you’re free to do anything. Nothing is static, everything is evolving, everything is falling apart.« Jonathan Eig schreibt, dass das Ende von Fight Club

    »surprisingly represents one of the more optimistic of the modern mindfucks. […] It allows Jack to destroy Tyler, thereby attaining a level of power and control that he has never consciously known. […] Jack achieves a rationality in the use of his newly-discovered power. […] The final shot – Jack with arm around girlfriend, watching a spectacular display of fireworks – constitutes, to borrow Judith Butler’s phrase, ›an ironic hopefulness‹.«

    Black Swan gibt mit Ninas letztem Lächeln vor ihrem Tod und ihrem direkt an den Zuschauer gerichteten »I was perfect.« eine zumindest mögliche Hoffnung innerhalb des Chaos und kann als Gegenthese zum postmodernen »Wir sind alle verrückt.« verstanden werden – denn sie findet in ihrem eigenen Identitätschaos zu einer eigenen, konsistenten Deutung ihres Selbst. Auch Irréversible endet in einem Moment größter Idylle, der in keiner Weise schwächer ist als der unerbittliche Anfang des Films, auch wenn dieser erst am Ende des linearen Zeitverlaufs stehen wird. Die Prämisse »Le temps détruit tout« (Zeit zerstört alles) konterkariert der Film nicht nur in seinem versöhnlichen Abschluss, sondern dass er die Zeit im Film selbst zerstört und damit wieder zu einer Ordnung im Chaos zurückfindet. Noch stärker ist eine ordnende Neuschöpfung in Upstream Color zu sehen, wenn die vielen identitätsvergewaltigten Figuren zwar nicht mehr zu ihrem ursprünglichen Ich, aber zu einer neuen Gemeinschaft finden.

    Unentscheidbarkeit von Dark Drama

    In gewisser Weise will Dark Drama also den empfundenen postmodernen Nihilismus überwinden. Vertreter des Genres fordern dazu auf, es sich nicht so einfach zu machen und nicht jede Lösungsmöglichkeit schlichtweg abzulehnen. Vielmehr ist auch im Chaos Ordnung möglich – und damit menschliche Hoffnung. Ordnung und Utopie der Moderne sind nicht mehr zu erreichen, doch ein Triumph über das Chaos unserer eigenen Identität kann gelingen, wenn wir uns in die Lage bringen, darin etwas Sinnstiftendes finden zu können, die eigene Story mit eigener Deutung.

    Dark Drama sucht im besten Fall durchaus nach konkreten Antworten, entscheidet aber nicht für den Zuschauer, welche wahr oder gültig ist. Vielmehr wird dieser aufgefordert, sich aus den Fragmenten und metaphorischen Splittern selbst eine – individuelle – Antwort zusammenzusetzen. In dieser Unentscheidbarkeit (undecidability) des Genres liegt ein Akt der Befreiung, tatsächlich wieder Antworten finden zu können. Dark Drama vermittelt dem Zuschauer beispielhaft, wie wichtig und erstrebenswert in unseren heutigen Zeit eine eigene Haltung und Interpretation für die Stabilität und (Re)Konstruktion der eigenen Identität ist.

    Nicht jeder Rekonstruktionsversuch muss dabei gelingen. In Christopher Nolans Inception* (2010) gelingt es zwar, sich durch mehrere Schichten der Psyche zu kämpfen, aber es bleibt offen, ob es Dom Cobb am Ende gelungen ist, sich aus der untersten Ebene des Wahnsinns zu befreien. Die am meisten diskutierte Frage zu dem Film ist, ob der Kreisel am Ende fällt oder nicht. Tatsächlich ist die faktische Antwort darauf unerheblich, denn in beiden Fällen ist Cobb zu seinen Kindern zurückgekehrt. Die wichtige Frage an den Zuschauer ist vielmehr, ob eine Realität gegenüber der anderen ›wertvoller‹ oder ›richtiger‹ ist. Das ist eine zentrale Frage unserer Zeit, und unsere persönliche Antwort darauf, unsere eigene Sinnstiftung, kann uns viel über unser Verhältnis zu unserer Gegenwart und der Zeit des Umbruchs sagen.

    (*Inception kann schon wieder als ein zeitiger Meta-Kommentar auf die Motive des Dark Drama verstanden werden. Er nimmt z.B. die Reise ins Innere der Seele wörtlich und inszeniert sie mit Anleihen aus diversen Genres wie Heist-Thriller, Spionage-Actionfilm und mindfuck. Er ist damit entweder ein Spiegel zu Dark Drama oder die auf Hollywood-Dimensionen aufgepumpte Quintessenz des Genres.)

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    Das Dialogische Selbst

    Das Grundproblem menschlicher Identität ist unsere Unfähigkeit, uns selbst von außen zu betrachten. Salopp gesagt: Wir kriegen uns selbst objektiv nicht zu fassen. Daher hat der Mensch ein unstillbares Verlangen nach der Projektion seines Selbst auf einer äußeren Ebene, in einem äußeren Raum. Unsere gesamte Umwelt – materiell wie sozial – dient uns als Projektionsfläche. Kunst entspringt letztendlich unserem Grundbedürfnis, uns selbst zu spiegeln und damit zu erfassen.

    Insbesondere im Geschichtenerzählen (und noch spezieller im Medium Film, das die Projektion physisch auf einer Leinwand vollzieht) können wir dem Fremden in uns selbst zumindest für einen Moment gegenübertreten und es je nach Spiegelung und Projektion teilweise erfassen. Slavoj Žižek sagt: »Because I think it’s only a game, it’s only a persona, a self-image I adopt in virtual space, I can be there much more truthful. I can enact there an identity which is much closer to my true self. We need the excuse of a fiction to stage what we truly are.« Der Schluss ist deshalb nicht schwer, warum diese als Stilmittel so stark in Dark Drama vertreten sind (siehe Leinwände und Bühnen als Projektionsflächen in Teil 2).

    Weil das jedoch nicht unser vertrautes, sondern ein unvertrautes Selbst ist, erscheinen wir uns selbst immer wieder als antagonistische Kraft (siehe Du bist dein eigener Feind in Teil 1). Es gibt verschiedene ähnliche Modelle, um den Unterschied zwischen dem wahrgenommenen und dem fremden Selbst zu kennzeichnen. Schon 1890 differenzierte William James zwischen dem »me« (dem Selbst als bekanntes Objekt, der empirischen Person) und dem »I« (dem Selbst als wissendem Subjekt, dem bewertenden Gedanken), die in permanentem Dialog zueinander stehen. Carl Gustav Jung unterschied zwischen unserem äußeren, bewussten »Ich« als vorherrschende Identität (auch Maske bzw. »Persona« genannt) und dem inneren, unbewussten »Selbst« als Kern unserer wahren Identität (auch als »Schatten« bezeichnet). Jennifer de Peuter benutzt die Begriffe »selfhood« und »otherness«.

    Die narrative identity theory kennt dafür das Prinzip des »dialogical self«, bei dem sich »self« und »other« in einen permanenten Austausch oder eben Dialog miteinander befinden. Dabei ist die Annahme zentral, dass es gar kein einheitliches, kohärentes Selbst gibt, sondern dass sich unsere Identität aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl miteinander verflochtener Bewusstseinsaspekte ergibt. Nicht nur unsere äußeren gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Orientierungspunkte sind in der Postmoderne einer Pluralität unterworfen (siehe Identitätskonstruktion durch Narrativierung und Sinnstiftung weiter oben), sondern auch die inneren Facetten unseres eigenen Ichs sind bereits plural und ständiger Revision unterworfen.

    Nach Jerome Bruner besteht Identität aus verschiedenen, das Selbst erschaffenden Storys. Wir müssen diese unter einer Identität vereinen und synchronisieren. Dabei geht es nicht nur darum, wer oder was wir sind, sondern auch, wer oder was wir hätten werden können. Swantje Möller nennt das die »poly-storied nature of identity« und weist auf Wolfgang Hallet hin, dem zufolge wir »oft sehr heterogene stories in den autobiografischen Text einschreiben« müssen.

    Postmoderne Selbstheit ist ein Prozess

    Der stete Wandel des Subjekts erschwert die ohne schon kaum mögliche Selbstbeobachtung und -erfassung. Doch durch stetig neue Narrativierung und neue Sinnstiftung kommt es zu einer permanenten Subjekt-Objekt-Spaltung, die es einem Subjekt-Anteil des Ichs erlaubt, einen anderen Teil des Ichs als Objekt wahrzunehmen. Dadurch wird eine Selbstbeobachtung immer wieder möglich oder ist zumindest nicht ausgeschlossen. Als Doppelgängermotiv sind solche ›Spaltungsphantasien‹ tief in der menschlichen Kultur und speziell auch im Dark Drama verwurzelt (siehe Spiegel und Doppelgänger in Teil 2).

    Wenn sich jedoch beobachtendes Subjekt und beobachtetes Objekt weiter im Wandel und steter Auflösung und Spaltung befinden, sind sie nie identisch. Diese Phänomen-Kette kann im Dark Drama zentral thematisiert werden. Sie äußert sich in Wahnsinn, wenn sich Subjektsplitter beobachten und somit reflektieren können, aber als fremd empfunden werden. Sie äußern sich in einer Hoffnung, wenn die gleiche Ursprungsidentität in ihnen entdeckt wird und somit in dem Auflösungsprozess und damit der Vernichtung der ursprünglichen Identität letztendlich nur ein Wandel zu einer neuen und immer noch verwandten Identität erkannt wird.

    Dies ist ein weiterer Grund für die notwendige Unentscheidbarkeit, zu der Dark Drama tendiert (siehe Unentscheidbarket von Dark Drama weiter oben): Wir haben die Chance, uns selbst zu erkennen, auch wenn wir es nicht mehr selbst sind. Der Mensch kriegt sich selbst nie zu fassen, sondern steht immer wieder neu dem Fremden in sich selbst gegenüber. Postmoderne Selbstheit ist also ein kontinuierlicher Prozess, der immer wieder Revision unterliegt. Nach Wolfgang Kraus ist Identitätsbildung »a story without closure, constantly open to change.«

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    Weiterführende Gedanken: Die holografische Psyche

    Bei der Arbeit mit Identitätsauflösungen im Kontext des Geschichtenerzählens mag es lohnenswert sein, sich menschliche Identität als Holografie oder Hologramm vorzustellen. Die Eigenschaft holografischer Speicherräume ist, dass jedes Fragment des Ganzen wiederum die gesamte gespeicherte Information enthält. Die Splitter eines Bildes enthalten also wieder das ganze Bild. Damit würde auch jeder Splitter der eigenen Identität wiederum die gesamte Identität widerspiegeln, die gesamte Selbstheit.

    Die Konstruktion einer ›Splitterseele‹ oder von ›Seelensplittern‹ kann insbesondere im Dark Drama zu verstehen helfen, worin die tatsächliche Gestalt und Einflussnahme einer sich in Erosion und Zerfall befindlichen Identität besteht: In jedem Splitter, jeder Fragmentierung finden sich nicht nur einzelne Hinweise auf die originäre Identität, sondern sie findet sich in ihnen komplett.

    Der Fokus der Narration kann dabei sowohl auf die Dramatik und den Schock des Zerfallsprozesses gelegt werden (Zersplitterung als traumatisierenden Akt) als auch auf die Suche nach und Konfrontation mit den eigenen, fremd und doch vertraut erscheinenden Fragmenten, die es zu interpretieren gilt. In leicht antiquierten Dramaturgie-Begriffen ausgedrückt kann das want der Hauptfigur in einer möglichen Rekonstruktion der alten Psyche liegen, die jedoch unwiederbringlich und unumkehrbar verloren ist, weshalb jeder Versuch im Wahnsinn zu enden drohen würde. Das need der Hauptfigur würde dagegen in einer neuen Rekonstituierung der Psyche liegen und damit in einer potentiellen Heilung. Abschließende Antworten sind in beiden Fälle weder möglich noch nötig. Der Ausblick auf heilende, zukunftsweisende, identitätskonstituierende Antworten ist wie in den vorangestellten Abschnitten dargestellt aber auch nie unmöglich.

    Hieraus erklärt sich auch noch einmal, warum im Dark Drama der Weg ins Innere des eigenen Psyche führen muss und nicht wie in anderen Genres externalisiert wird: Nur in der inneren Konfrontation, Untersuchung, Deutung und Neu-Zusammensetzung der (Hologramm-)Splitter können befriedigende Antworten gefunden werden. Dabei würde sich in gleicher Analogie durch eine Neuinterpretation der Identitätsinformation eines einzigen Splitters auch die Identität aller anderen Hologramm-Fragmente ändern. Hier geht es also auch ganz klar um Potentiale von Identität, die für die Kohärenz des eigenen Selbst wichtiger sind als der unumstößliche Konkretheit.

    Die Idee von Hologramm-Fragmenten, von denen jedes Eine das Ganze ist, kann auch seine Entsprechung in der Erzählstruktur des Films selbst finden: Wenn sich in jedem Splitter des Menschen sein ganzes Wesen widerspiegelt, so spiegelt sich im Idealfall in jedem Element eines Filmes – also in Gesten, Requisiten, Schauplätzen – der gesamte Narrativ des Filmes wider. Speziell Film mit seiner Sprache des bewegten Bildes bietet die Möglichkeit, sich einer Metaphorik zu bedienen, mittels der sich in jedem einzelnen Bild (als Äquivalent des Splitters) der gesamte Kern des Films ausdrücken und entdecken lässt.
     

    Entwicklungspotentiale von Dark Drama

    Ein Genre des Zeitgeists

    Es liegt nahe, dass Dark Drama mit seinem Fokus auf seelische, aber auch körperliche Zersetzung verstärkt Künstler inspiriert und das Publikum anspricht (und sich auch andere Genres mit Identitätsprozessen auseinandersetzen und heutzutage auffällig dunkler und zerrissener werden). Auch deshalb ist es ein sehr modernes Genre, weil es starken, aber oft unkonkreten und wenig fassbaren Wahrnehmungen und Entwicklungen ein konkretes Gesicht und eine konkrete, fassbare künstlerische Ausdrucksmöglichkeit geben kann.

    Weil es aber um die Auflösung des Subjekts selbst geht, ist die Hyperkonsequenz im Dark Drama – oft verbunden mit Krassheit, Bitterkeit, Fatalismus, Dystopie – nicht nur ein integraler Bestandteil des Genres, sondern auch zwangsläufig: Nach der Zersetzung des eigenen Ichs kann nichts mehr kommen, die Auflösung selbst ist das Einzige, was anscheinend maximal noch verstehbar gemacht werden kann. Die fremde Entität in uns, das antagonistische, dunkle Ich im dunkelsten Raum unserer Seele, kann immer nur unvollständig beschrieben werden. Dieses ›unbeantwortete Rätsel‹ ist die Natur von Dark Drama. Weil uns das Genre Antworten verweigert, bleiben die Fragen länger in uns. Sie zwingen uns, uns mit dem Fragen auch nach dem Ende Film zu beschäftigen. Dies garantiert Dark Drama einen ausgesprochen langfristigen Wirkungseffekt.

    Dark Drama hat großes Potential, nicht standardisiert zu werden, weil es immer wieder aktuelle und neue gesellschaftliche Probleme, Verkantungen und Zerrissenheiten reflektiert und damit inhärent immer wieder neue Ausprägungen erfahren wird. Das latent Unstete im Dark Drama ist durchaus ein Vorteil des Genres, in nicht all zu etablierte Formeln zu fallen.

    Seine hohe Diversität, seine stark herausgehobenen Metaebenen und sein fehlender Wohlfühlcharakter erschweren es dem Genre, ein Mainstreampublikum zu erreichen. Künstlerisch und kommerziell herausragende Vertreter versprechen in Einzelfällen aber besonders viel Aufmerksamkeit und Prestige. Dennoch bleibt Dark Drama ein ›schweres‹ Genre, das von der Lust des Zuschauers auf Enträtselung, offene Fragen, eigenständiges interpretatorisches Konsumieren und abgründige Seelenwelten lebt. Damit kann es aber auch immer wieder neue Generationen ansprechen, weil es die Komplexität der heutigen und der kommenden Zeit besser erfassen kann und dabei trotz Hyperkonsequenz die Möglichkeit und Hoffnung auf Antworten nicht verweigert.

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    Dark Drama als Motor eines neuen starken metaphorischen Films in Deutschland

    Das deutsche Kino hat sich Illusionismus, Manipulation und metaphorische, also bildhaft-symbolisch-poetische Filmsprache ausgetrieben. Film soll nur zeigen, was wirklich ist. Poetisch-mythische Genres wie Horror oder Fantasy werden aufgrund ihrer symbolhaften Kraft abgelehnt.

    Dark Drama schlägt hier eine Brücke. Es verbindet den Anspruch der Hochkultur nach einer inneren figürlichen Auseinandersetzung mit der metaphorischen Erzählweise des Genrefilms. Dabei bleibt es immer persönlich und unterwirft sich Genreelemente, anstatt sich von ihnen unterwerfen zu lassen: Motive aus anderen Genres sind nicht Selbstzweck, sondern habe eine klare narrative Funktion. Sie unterstützen das Drama, sind sogar zwangsläufig, da ohne sie die Erzählsprache von Dark Drama Genres nicht möglich ist.

    Dieses Potential kann dazu führen, dass Filmsprache insgesamt in Deutschland wieder verstärkt als das verstanden wird, was sie eigentlich ist: ein metaphorisches Symbolsystem, die sich außer-realistischer, überhöhender, phantastischer oder schlichtweg ungewöhnlicherer Elemente bedient, um Idee, Thema und Philosophie usw. des Films zu illustrieren und innere Prozesse durch metaphorische Externalisierungen und Objektifizierungen für den Zuschauer sichtbar und spürbar zu machen. Mit Dark Drama kann das deutsche Kino lernen, filmische Sprache wieder verstärkt anzuwenden, ihre Funktion und ihre Systematik zu verstehen.

    Dies kann Impulse in zwei Richtungen geben: Zum einen den Anbruch neuer, anspruchsvoller Dramen, die sich mit sozial-realistischen Sujets und Fragestellungen befassen, für diese jedoch neue, spannende, vor allem filmische Ausdrucksformen finden. Zum anderen aber auch Impulse für hier produzierte Genrefilme, die sich über das metaphorische und symbolische Erzählen des Dark Drama auch wieder Kerngenres wie Fantasy, Science Fiction, Mystery, Horror oder Thriller neu erschließen. Deren spezifische Elemente können wieder als Metaphern für tieferlegende innere Konflikte oder gesellschaftliche Kommentare verstanden werden. Die Genres könnten von in Wiederholung erstarrten Oberflächen-Motiven befreit werden.

    Kandidaten für deutsche Dark-Drama-Filme der letzten Jahre, die diese Potentiale illustrieren, wären Hans Weingartners und Tobias Amanns Das weiße Rauschen (2000), Jessica Hausners Hotel (2004), Simon Groß’ Fata Morgana (2007), Lars Henning Jungs Höhere Gewalt (2008), Michael Hanekes Das weiße Band (2009), Huan Vus Die Farbe (2010), Linus de Paolis Dr. Ketel (2011), Julian Pölslers Die Wand (2012), Andreas Dahns Der Sandmann (2012) oder Katrin Gebbes Tore tanzt (2013).

    Auf dem Weg zu neuen Story- und Genre-Paradigmen?

    Geschichten simulieren den Problemlösungsprozess des menschlichen Geistes. Nur deshalb interessieren uns Storys in erster Linie überhaupt. Sie sind ›Bedeutungsmaschinen‹, dazu gedacht, unsere eigenen Gedankenprozesse in Symbolsystemen auszudrücken. Geschichten sind genau deshalb so aufgebaut, weil unser Gehirn identisch arbeitet. Anders könnten wir sie gar nicht verstehen und erst recht nicht ›verwenden‹.

    Was aber passiert mit der Art, wie wir Geschichten erzählen, wenn sich unsere Psyche, unser Geist verändern? Dark Drama handelt von nichts anderem als der umfassenden Transformation des menschlichen Geistes, der menschlichen Identität. Ein tieferes Verständnis, warum das Genre so ist, wie es ist, kann auch zu einem neuen Verständnis dazu führen, wie Geschichten künftig grundsätzlich erzählt werden können oder womöglich sogar müssen. Im besten Fall ist Dark Drama die Tür zu einer neuen Art von Geschichtenerzählen.

    So führen allein schon die Überlegungen zu den Funktionen der einzelnen filmsprachlichen Elemente im Dark Drama zu der Vermutung, dass andere Genres möglicherweise nicht mehr adäquat etwas über die heutige Zeit erzählen können, sondern sich nur noch mit der Wiederholung ihres – veralteten – Motivinventars selbst bespielen und damit nur noch leere Hüllen sind, aber nichts mehr sagen. Das Potential von Dark Drama liegt also womöglich auch darin, andere Genres an die aktuelle Zeit ›anzupassen‹. Denn so, wie Dark Drama sich fremder Genreelemente bedient, um seine Narrative zu erzählen, so können auch andere Genres durch die im Dark Drama verhandelten Fragen zu Identität neue Impulse erhalten. Denn ob Fantasy, Horror oder Science Fiction: Sie erzählen alle aus verschiedenen Blickwinkeln von menschlicher Identität.

    Derweil wird die Postmoderne längst für beendet erklärt. In den vergangenen Jahren äußerte eine wachsende Zahl von Denkern den Gedanken, wir befänden uns bereits jenseits der Postmoderne. Immer wieder wird der Begriff »Post-Postmoderne« in Diskussionen benutzt. Max Heine postuliert 2012 »Die Postmoderne ist tot!«. Er entwirft den Gedanken einer neuen Epoche, die der »Beliebigkeit der Postmoderne« »klare Ideen« entgegensetzen soll (»Ernsthaftigkeit der Erinnerung, Moral, Solidarität, Aufbruch«) und gibt ihr den Namen Réveillement (Erwachen).

    Weiter formuliert Heine eine entscheidende Frage über die Epoche nach der Postmoderne, die wie die Kernfrage für den Narrativ von Dark Drama zu klingen scheint: »Kann die Gesellschaft die durch die Veränderungen hervorgerufenen Gefühle der Menschen in sich aufnehmen, ohne selbst zu zerbrechen?« Anders formuliert: Lassen sich Fragmentierung und Erosion der eigenen Identität als ein neuer Identitätszustand verstehen, der die Gesellschaft nicht zersetzt?

    Dark Drama wäre kein Genre des Übergangs, wenn es nicht auch das Potential einer Transgression hin zu einem möglichen neuen Modus der Gesellschaft transportieren könnte. In seiner langen Geschichte hat das Genre immer wieder solche massiven Übergange begleitet – ob es die Erschütterungen der Moderne nach dem Ersten Weltkrieg oder im Film Noir nach dem Zweiten Weltkrieg (siehe Teil 3) waren oder die Weltneuordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs (siehe Teil 4). Immer dann, wenn bisherige Gesellschaftskonzepte überworfen werden, wird auch menschliche Identität in Frage gestellt. Die (postmodernen) Funktionen von modernem Dark Drama, im Wandel selbst Stabilität und Selbstkonstitution durch die Fähigkeit individueller Sinnstiftung zu finden, lassen auf gute Zeiten für Höllentrips aus der Postmoderne hoffen.
     

    Nachwort

    Höllentrips aus der Postmoderne – Bestimmung des Genres Dark Drama (PDF-Version) stellt eine erste Grundlage dar, Mechanismen und Kernelemente von Dark Drama zu identifizieren. Es sind Vorschläge und Ideen, die erweitert, vertieft und auch angefochten werden dürfen. Viele Fragen sind längst nicht erschöpfend untersucht, einige hoffentlich herausfordernde Anstöße sind aber zumindest getan.

    Weitere Gedanken, Anregungen, Kommentare, Kritiken und Korrekturen zum Genre und den es umgebenden Themen und Themenkomplexen sind hocherwünscht und regen möglicherweise weitere Debatten an, Filmgenres allgemein und speziell im deutschen Film zu erkunden und ein Bewusstsein zu schaffen, wie über Film gedacht werden kann.