1. Dark Drama – Teil 4: Filmgeschichte: 1960er bis heute

    09.01.2014 /// /

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    In Teil 3 von Höllentrips aus der Postmoderne von Mark Wachholz haben wir die filmhistorischen Ursprünge von Dark Drama untersucht – von der Stummfilmzeit zum Film Noir. Im zweiten Block der Filmgeschichte geht es nun weiter in den 60er Jahren, in denen Film sich massiv “selbst bewusst” wurde und erste moderne Dark Dramas erschienen. Die Reise führt weiter zu den 90er Jahren und dem wichtigen Einfluss der mindfuck-Filme, mit denen das moderne Dark Drama auf dem heutigen Stand ankommt.
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    Teil 1: Was ist Dark Drama – Einführung und Hauptfigur
    Teil 2: Stilmittel und Spezialformen von Dark Drama
    Teil 3: Dark Drama Filmgeschichte: 20er bis 50er
    Teil 4: Dark Drama Filmgeschichte: 60er bis heute
    Teil 5: Deep Theory und Entwicklungspotentiale von Dark Drama
     

    Eine kurze Geschichte des Dark Drama II: 1960er bis heute

    1960er: Film schaut in seine eigene Psyche

    In den 60er Jahren ist insbesondere im europäischen Kino eine zunehmende Selbstreferenzialität des Mediums Film festzustellen. Unter dem Einfluss filmemachender Filmkritiker der Nouvelle Vague und daraus folgender weiterer ›Neuer Wellen‹ in vielen europäischen Ländern und der zunehmenden wissenschaftlichen, theoretischen und philosophischen Reflexion zu Wirkweise und Wahrnehmung von Film (junge Filmemacher kommen inzwischen erstmals von Filmhochschulen) wird sich Kino zunehmend selbst bewusst – wie in Alain Resnais’ Hiroshima, mon amour (1959), Federico Fellinis 8 ½ (1963) oder Jean-Luc Godards Le mépris – Die Verachtung (1963).

    Es sind vor allem die daraus folgenden Erzähltechniken (Spiel mit Linearität von Film und Kausalität von Story), Motive (Schauspieler als Hauptfiguren, Filmsets) und filmsprachlichen Mittel (zum Beispiel Projektionen, auffällige Schnitttechniken, Zitate), die in dieser Zeit entwickelt beziehungsweise verstärkt durchdrungen werden, aus denen sich das Dark Drama später stark bedienen wird. Die Parallele liegt auf der Hand: Indem das Medium Film in seine eigene ›Psyche‹ eindringt, entwickelt es filmsprachliche Mittel, die helfen, auch den Gang in die menschliche Psyche im Medium zu visualisieren.

    Ein frühes Beispiel ist das britische Thrillerdrama Peeping Tom (1960) von Michael Powell, das uns wie Hitchcocks Psycho (1960) aus dem gleichen Jahr in die kranke Psyche eines Serienkillers führt: Die Hauptfigur Mark filmt seine Opfer, während er sie mit einem Stilett an seinem Kamerastativ umbringt, und schaut sich die Aufnahmen später immer wieder zwanghaft an. Der Film ist sowohl Dark Drama als auch früher Psychothriller: Sein Fokus liegt stark auf dem Alltagsleben des Killers, der Film zwingt uns mit seiner Kamera auch in seine Perspektive. Gleichzeitig wird aber die deformierte Psyche immer noch anhand eines Verbrechers erzählt wird, und der Film zieht auch Thrill aus dessen möglichen Entlarvung und aus der Bedrohung der jungen Frau, die sich in ihn verliebt. Tragisch: Während Hitchcocks Film den modernen Thriller begründete und ein kanonischer Klassiker der Filmgeschichte wurde, kostete Peeping Tom Regisseur Powell vollständig und Hauptdarsteller Karl-Heinz Böhm so gut wie die Karriere, und der Film verschwand für über ein Jahrzehnt. (Zur speziellen Entwicklung des Serienkiller-Thrillers zum Dark Drama siehe auch Psychische Störungen: Von Killern zu Alltagsmenschen in Teil 1)

    Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad (1961) ist der Versuch, die Linearität und Kausalität von Film – und noch mehr unserer eigenen Erinnerungen und Sinnzuschreibungen – komplett aufzubrechen. Die Geschichte eines Manns, der glaubt, eine Frau zu kennen, die sich an ihn wiederum nicht mehr erinnern kann, ist ein einziges, nicht auflösbares Labyrinth und in gewisser Weise eine Inszenierung von Wahnsinn und Identitätserosion – nicht durch entlehnte illusionistische Genre-Techniken*, sondern in der Erzählstruktur selbst. (*Sieht man von einer Science-Fiction-inspirierten Zeitschleifen-Interpretation des Films ab, für die es durchaus gute Argumente gibt und die Einordnung als Dark Drama nur noch stärken würde.)

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    Ebenfalls stark als frühes Dark Drama zu identifizieren ist Ingmar Bergmans Persona (1966): Eine Schauspielerin verstummt mitten im Dreh und spricht danach nicht mehr. Eine Krankenschwester begleitet sie auf eine einsame Insel – die eine schweigend, die andere für beide redend. Langsam beginnen sich die Persönlichkeiten der beiden Frauen zu vermischen. Bergman geht noch einen Schritt weiter als Resnais und inszeniert seinen Film von Anfang an als selbst eine Projektion (siehe Teil 2). Auch wenn Persona einige unheimliche Spannungsspitzen hat und auch mit Flashs verstörender Einzelbilder arbeitet, liegt seine hauptsächliche Motiv-Entlehnung weit im Genre des Experimentalfilms. Psyche der Figuren und Erzählmedium werden komplett eins, als mitten im Film der Film selbst ›reißt‹ und sich am Ende in nicht mehr zu steigernder Hyperkonsequenz schließlich komplett im Licht des Scheinwerfers zersetzt.

    Viele von Bergmans Filmen beschäftigen sich mit der Frage nach der eigenen Identität und thematisieren geistige Krankheiten – oft in Kontrast gesetzt mit kosmisch-philosophischen Fragen nach Glauben und Gott. Dabei sind längst nicht alle (zum Beispiel Das Schweigen (1963)), aber doch einige dieser Filme Prototypen des Dark Drama: In Das siebente Siegel (1957) sucht ein Kreuzritter in der Begegnung mit dem leibhaftigen Tod nach Gott. In Wie in einem Spiegel (1961) erleben wir die unheilbare Geisteskrankheit einer jungen Frau. Der als ›Horrorfilm‹ deklarierte Die Stunde des Wolfs (1968) folgt viel mehr den Genrekonventionen eines Dark Drama, da er Elemente des Horrorfilms und des surrealen Films verwendet, um das Innenleben seines gestörten Protagonisten zu beschreiben.

    Ein früher Dark-Drama-Klassiker ist Roman Polanskis Repulsion (1965), in dem sich das Genre bereits voll ausgebildet hat: Mit Elementen des Horrorfilms wird von der jungen Carole erzählt, die sich aufgrund ihrer Sozialpsychose immer mehr in ihre Wohnung, den dunkelsten Ort der Seele, zurückzieht und in den Wahnsinn driftet. Die letzte Einstellung im Film gibt dem Zuschauer einen möglichen Hinweis, aber keine klare Antwort auf ihre psychische Krankheit – ein schönes Beispiel für die in Teil 5 (morgen) beschriebene undecidability im Dark Drama, in der es nicht um Erklärungen, aber auch nicht um nihilistische Verweigerung selbiger geht. Vielmehr steht ein individuelles Antwort- oder gar Sinnpotential am Ende des Zerstörungsprozesses der eigenen Psyche.

    An den beiden Folgefilmen von Polanskis sogenannter ›Mieter-Trilogie‹ zeigt sich auch gut der Unterschied zwischen Horror und Dark Drama: Während Rosemary’s Baby (1968) phantastisch-übernatürliche Elemente, manifestiert in der Erzählwelt, einsetzt und zentral thematisiert, instrumentalisiert Der Mieter (1976) eine beklemmend-unheimliche Atmosphäre, um die zunehmende Entfremdung und psychotische Wahrnehmung der Hauptfigur zu übersetzen.

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    1970er: Erste Blütezeit des modernen Dark Drama

    Die 70er Jahre gaben entscheidende Impulse für die Entwicklung des Dark Drama. Anders als noch beim Film Noir kann hier keine prominente Genre- oder Stilbewegung als Vorläufer oder Entsprechung des heutigen Dark Drama identifiziert werden. Vielmehr gingen nach dem europäischen New-Wave-Boom der 60er Jahre im New-Hollywood-Kino diverse Regisseure neue, eigene Wege, um den Mainstream des amerikanischen Kinos aufzubrechen, oder sich – wie in Großbritannien oder Australien – von der weltweiten Aufbruchsstimmung im Kino mittragen zu lassen. Regisseure wie Werner Herzog, Nicolas Roeg, David Lynch oder Francis Ford Coppola schienen in dieser Zeit anscheinend vor allem das Labyrinth der eigenen Psyche auf die Leinwand zu bringen.

    Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes (1972) schickte Klaus Kinski als Titelfigur auf eine (von Joseph Conrads Roman Heart of Darkness inspirierte) aussichtslose Reise in den südamerikanischen Dschungel, auf der Suche nach der Goldstadt El Dorado. Wenige Jahre später wiederholte Francis Ford Coppola diese Reise – jetzt im vietnamesischen Dschungel, auf der Suche nach dem verrückt gewordenen Colonel Kurtz – in extremerer Version in Apocalypse Now (1979) und ersetzte Entlehnungen aus dem Genre des Abenteuer- und Historienfilms mit Elementen des Kriegsfilms. Beide Filme wurden Blaupausen für die Höllentrip-Variante im Dark Drama (siehe Teil 2) und inspirierten Filme wie Vinyan (2008) oder Van Diemen’s Land (2009).

    Dazu fand ein erstes Aufblühen lyrischer Dark-Drama-Filme (siehe Teil 2) statt: Nicolas Roegs symbolisch überbordender und rätselhafter Don’t Look Now (1973) erzählt die Geschichte eines Paars, das nach dem tragischen Tod ihrer Tochter nach Venedig geht – nur um dort mit mysteriöse, spirituellen Ahnungen konfrontiert zu werden: Vor allem der Vater scheint Botschaften seiner Tochter aus dem Jenseits zu empfangen, die er jedoch für irreal hält, während er gleichzeitig immer wieder seine Tochter in den verwinkelten Gassen der Lagunenstadt zu sehen glaubt, auch wenn er weiß, dass sie tot ist. Sein verzweifelter Versuch, sich seine physische, rationale Welt zu beweisen und sich ihrer zu vergewissern, ist hier zum Scheitern verurteilt.

    Bei Peter Weirs poetischem Mysterydrama Picnic at Hanging Rock (1975) beginnt die Unzuverlässigkeit der Erzählung bereits mit der verbreiteten Annahme (und Suggestion der Romanautorin Joan Lindsay), dass die Geschichte um einige Schülerinnen, die am Valentinstag 1900 während eines Ausflugs zum Hanging Rock auf mysteriöse Weise verschwinden, auf einem wahren Fall basiere, was aber gar nicht der Fall ist. Weder Buch noch Film lösen das Mysterium auf, wenngleich es für den Roman ursprünglich ein finales Kapitel mit einer Auflösung gab. Darin wird das Verschwinden durch eine Art Raum- oder Zeitverwerfung erklärt, was besonders prägnant zeigt, wie im Dark Drama aus anderen Genres geborgt wird (hier aus der Science Fiction), ohne diese Genres tatsächlich zu bedienen (hier, indem sogar das Kapitel vor Veröffentlichung des Romans gänzlich gekürzt wird).

    David Lynchs surreal-alptraumhafter Debütfilm Eraserhead (1977) ist ein weiterer signifikanter Meilenstein des Dark Drama. Schon im Titel steckt die für das Genre zentrale Erosion der Identität. Die Geschichte um den orientierungslosen Henry Spencer (in Gestalt einer selbstreferenziellen Sergej-Eisenstein-Inkarnation), dessen Freundin ein monströses Kind gebiert, um das er sich schließlich allein kümmern muss, steckt voll alptraumhafter Sequenzen und hypnotisch-verstörender Bildern.

    Wie Eraserhead wurde auch Andrzej Zulawskis Ehewahnsinn Possession (1981) außerhalb jeglicher Genre-Kategorien wahrgenommen, dabei ist es nach Regisseur Andreas Marschall »ein hysterisches Meisterwerk des Dark Drama«. Sowohl die Ansiedlung des Films im gespaltenen Berlin, stets direkt an der Mauer, als auch die gewalttätig durchlebte Trennung der beiden Hauptfiguren erzählen von der Spaltung der Psyche, die im Kern der Geschichte liegt. Dazu treten gleich mehrere Doppelgängerfiguren auf. »You must be torn apart.« heißt es in einer Szene im Film.

    Mit Hyperkonsequenz (eine noch heute erstaunliche Krassheit zieht sich durch den Film), Genre-Entlehnungen (Horror), unzuverlässigem Erzähler, dem nicht zu gewinnenden Kampf gegen das Chaos (»I’m ready to understand, but it makes no real sense.«, »You must restore order.«) oder die unumkehrbare Reise in den Wahnsinn hin zu einer vollständigen Auflösung der eigenen Identität (»The key being the infinitive to accept.«, »As I’m an empty space.«) sind alle wichtigen Genremerkmale des Dark Drama etabliert. Und auch hier ist die Botschaft, die der Film hinterlässt, trotz aller Vernichtungsprozesse nicht nihilistisch. Eher zeigt der Film den Versuch, Liebe über Wahnsinn zu rekonstruieren. Das kann nicht gelingen, aber es wird ein völlig neuer Zustand erreicht, der weit über menschliche Körperlichkeit hinausgeht: »I showed you the door to God. This door is always open.«

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    1990er: Mindfucks im Mainstream

    Den entscheidenden Schub – sowohl erzählerisch als auch in seiner Publikumswirksamkeit – erhielt Dark Drama in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges. Nach den filmisch beschleunigten 70ern und 80ern und nach Vorläufern wie Alan Parkers Angel Heart (1987, ein Horror-Film-Noir-Amalgam) und Adrian Lynes Jacob’s Ladder (1990, ein klassisches Dark Drama) begann sowohl im Mainstream- als auch im Autorenfilm ein »Boom filmischer Experimente« wie Neil Jordans The Crying Game (1992), Quentin Tarantinos Reservoir Dogs (1992) und Pulp Fiction (1994), Bryan Singers The Usual Suspects (1995), David Finchers The Game (1997), David Cronenbergs eXistenZ (1999) oder Spike Jonzes Adaptation (2002), wie Oliver Schmidt in seiner Dissertationsvorbereitung zu Hybride Räume (2013) schreibt, in denen »Filmwelten verstärkt dekonstruiert« und Geschichten »fragmentiert und unzuverlässig erzählt« wurden sowie das Filmbild »ästhetisiert« und mit Genres und dem Fundus der Filmgeschichte »verstärkt gespielt« wurde – allesamt klare Beschreibungen auch von Dark Drama.

    Diese Entwicklung konzentrierte sich etwa ab Lost Highway (1997) von David Lynch in einem speziellen Sub- oder Mikrogenre, das schon 2003 von Jonathan Eig mindfuck genannt wurde und in vielen, wenn auch nicht allen Fällen, wegweisende Meilensteine des Dark Drama darstellten. Insbesondere mit dem phänomenalen Erfolg von M. Night Shyamalans The Sixth Sense (1999), der noch klar als Mystery-Thriller bezeichnet werden kann, und David Finchers Fight Club (1999), einem der wichtigsten und einflussreichsten Dark-Drama-Filme der neueren Zeit, war das Genre im Mainstream angekommen.

    Nach Eig ist im mindfuck zentral, dass der Protagonist des Films selbst der Träger des Plot-Geheimnisses ist und weder er selbst noch das Publikum über seine wahre Identität bescheid wissen. Dieser erzählerische Fokus auf die Frage nach eigener Identität, oft in Form einer Spaltung, Zerrüttung oder von Auslöschung bedroht, ist auch der narrative Kern von Dark Drama. Nicht verwunderlich also, dass – von einigen Ausnahmen abgesehen – viele mindfuck-Filme der späten 1990er und frühen 2000er dem Genre zugerechnet werden können: die schon erwähnten Lost Highway und Fight Club ebenso wie Darren Aronofskys Pi (1998), Christopher Nolans Memento (2000), Richard Kellys Donnie Darko (2001) und wiederum David Lynchs Mulholland Dr. (2001).

    Ähnlich wie Eig fasst Steven Johnson diese Filme unter dem Begriff mind-bender zusammen und beschreibt äußere Merkmale, die sich aus dem inneren Narrativ ergeben: So stellt er einen erheblichen Anstieg von Filmen »built around fiendishly complex plots, demanding intense audience focus and analysis just to figure out what’s happening on the screen.« fest. Die Filme seien »designed specifically to disorient you, to mess with your head«,

    »[to] challenge the mind by creating a thick network of intersecting plotlines; some challenge by withholding crucial information from the audience; some by inventing new temporal schemes that invert traditional relationships of cause and effect; some by deliberately blurring the line between fact and fiction.«

    In ähnlicher Weise beschreibt auch David Bordwell diese »era of experimental storytelling«, die die klassische Norm des Geschichtenerzählens in Filmen erschütterten. Diese Filme würden mit »paradoxical time schemes, hypothetical futures, digressive and dawdling action lines, stories told backwards and in loops, and plots stuffed with protagonists« glänzen.

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    Entwicklung des Dark Drama von 2001 bis heute

    Mit den mindfucks oder mind-benders war auch Dark Drama populär geworden. Dabei kann eine erste Hochphase bis zu den Anschlägen am 11. September 2001 festgestellt werden. Als Donnie Darko im Oktober 2001 in die Kinos kam und als zentrales Element unter anderem einen Flugzeugabsturz enthielt, floppte der Film zunächst (erst durch Mundpropaganda wurde er in der Video-Auswertung zum Kultfilm).

    Mit den Anschlägen auf das World Trade Center fand unausweichlich ein Epochenwechsel statt, der manche zu der Formulierung hinreißen ließ, dass das 21. Jahrhundert politisch gesehen an diesem Tag erst begann. Ein globaler Prozess der Neuordnung und politischen wie persönlichen Identitätsfindung war die Folge. Wie in jeder Zeit großer, bedeutsamer und verlustreicher Umbrüche erfuhr auch Dark Drama als Instrument sowohl der Sichtbarmachung als auch der Beschäftigung und womöglich Deutung dieser Prozesse größere Produktion und Rezeption: Brad Andersons The Machinist (2004), Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004), Emmanuel Carrère Le moustache (2005), Steven Spielbergs Munich (2005), Williams Friedkins Bug (2006) oder David Lynchs Inland Empire (2007) sind dafür Beispiele.

    Dark Drama erhielt im letzten Jahrzehnt auch verstärkten Einfluss aus dem asiatischen Kino. Insbesondere im koreanischen Kino zeigt sich eine starke Affinität zum Genre – repräsentiert durch Park Chan-wooks ›Vengeance-Trilogie‹ Sympathy for Mr. Vengeance (2002), Old Boy (2003) und Sympathy for Lady Vengeance (2005), aber beispielsweise auch durch Jang Chul-soos Rachedrama Bedevilled (2010). (Näher zu untersuchen wäre stellvertretend an dieser Stelle die generelle Beziehung zwischen Rachethriller, Schicksalsdrama und Dark Drama. Der Rache-Narrativ ist in allen drei Genres eine hyperkonsequente Reise in den abgründigsten Ort der eigenen Seele, wird jedoch aus einer jeweils anderer Perspektive betrachtet. Mischformen können sich daraus aber durchaus ergeben, je nachdem, wie zentral die Ausführung der Rache (Thriller, Action) oder die Zerstörung des eigenen Ichs (Dark Drama) im Vordergrund stehen.) Auch Park Chan-wooks erste Hollywood-Arbeit Stoker (2013), ein poetisch-düsteres Coming-of-Age-Psychothriller-Drama ist ein poliertes, auf ein großes Publikum zugeschnittenes Dark Drama.

    Im Zusammenhang mit der Entwicklung von Dark Drama in den letzten Jahren soll auch auf einen beispielsweise 2012 von David Bordwell konstatierten Trend hingewiesen werden, wonach seit Ende der 2000er eine zunehmende Vermischung von Genrefilmen mit Arthouse im Generellen zu beobachten ist: »Everyone has noticed that genre pictures are getting artier, or art films are getting more genrefied. Crossover efforts can yield strong results, as shown by movies as different as Let the Right One In and Drive.« Diese generelle Entwicklung kann sogar soweit getrieben werden wie von Steven Benedict, der passenderweise Inception als ein »arthouse movie disguised as a 160 million dollar science fiction action adventure« beschreibt.

    In vielen dieser Genre-Arthouse-Amalgame lassen sich prägnante Merkmale des Dark Drama finden, das aus sich heraus bereits eine Brücke zwischen Drama und Genrefilm schlägt – ob die Mischung aus schicksalhaft zum Scheitern verurteilter Liebesbeziehung und ultrabrutalem Crimemelodram in Drive (2011) von Nicolas Winding Refn oder die kindliche Liebesgeschichte im Kontrast zum horrorhaften Vampirplot in Tomas Alfredsons Let the Right One In (2008).

    Dabei scheinen Regisseure auch immer wieder zum Dark Drama zurückkehren. David Lynch wurde bereits mehrmals genannt. Darren Aronofsky hatte bereits mit Pi und Requiem for a Dream einflussreiche Werke des Genres geschaffen, als er mit Black Swan (2010) einen der definitiven und extrem erfolgreichen Filme des modernen Dark Dramas schuf. Auch die Arbeiten von Nicolas Winding Refn lassen einen klaren Trend für Dark Drama erkennen, der von Bronson (2008) über Valhalla Rising (2009) und Drive zu Only God Forgives (2013) führt und den psychologischen Alptraum der Protagonisten in eine starke körperliche Zersetzung überträgt (und damit zwischen Dark-Drama-Martyriumsfilm, Höllentrip und Torture Porn schwingen).

    Als bisheriger Höhepunkt des Dark Drama vor allem in Sachen Hyperkonsequenz auf der Ebene der Narration muss Shane Carruths Upstream Color (2013) angesehen werden, der, wie in Teil 2 beschrieben, die Identitätserosion vor allem durch eine fast vollständig aufgehobene klassische Narration erzählt, die in Lynchs Inland Empire einen Vorgänger findet, hier aber wiederum dichter und strukturell durchdachter scheint.

     
    Im finalen Teil 5: Deep Theory und Entwicklungspotentiale von Dark Drama werden einige hinter den Stilelementen des Genres liegende Mechanismen untersucht, um zu verstehen, warum Dark Drama Identität in der hier vorgestellten Form erzählt. Dazu gibt es einige abschließende Überlegungen, worin mögliche Potentiale des Genres allgemein und für den deutschen Genrefilm im Speziellen liegen könnten.