1. Aufbruch oder Zugeständnis: Deutsches Genre auf der Berlinale

    09.01.2014 /// /

    blog_Berlinale2014_DerSamurai
    Auch dieses Jahr gibt es auf der Berlinale (6. bis 16. Februar) wieder die Festivalrubrik Perspektive Deutsches Kino, in der etwa ein Dutzend als herausragend und innovativ empfundene Filme junger deutscher Filmemacher präsentiert werden, um einen Überblick über den Nachwuchs hierzulande zu geben. Bislang war dies auch stets ein Querschnitt dessen, was den zeitgenössischen deutschen Film im Kino vor allem prägt: sozialer Realismus, Persönlichkeitsdramen und Dokumentarfilme. Preisträger der letzten Jahre waren beispielsweise Filme wie der dokumentarische Spielfilm Zwei Mütter (2013) von Anne Zohra Berrached, der DDR-Skateboard-Dokumentarfilm This Ain’t California (2012) von Marten Persiel oder die Azubi-Studie Die Ausbildung (2011) von Dirk Lütter. Dieses Jahr wurden nun überraschend zwei deutsche Genrefilme in die Perspektive Deutsches Kino aufgenommen. Ein motivierendes Zeichen für deutsche Genrefilmemacher?

    Kopf ab mit dem Samuraischwert

    Bereits im Dezember letzten Jahres wurde Der Samurai nominiert. In dem nach eigener Aussage “nightmarish queer thriller”, geschrieben und inszeniert von Till Kleinert, wird der junge Dorfpolizist Jakob im deutschen Nirgendwo mit dem Auftauchen eines androgynen Killers in Frauenkleidern aus den Wäldern konfrontiert, der die Gegend heimsucht und seine Opfer mit einem Samuraischwert köpft. Auf der Jagd nach dem Killer verspürt Jakob immer mehr eine seltsame Anziehung, die von dem namenlosen Fremden ausgeht und ihn unnachgiebig an seine eigenen, verborgenen Geheimnisse heranführt.

    Kleinert ist Student an der Berliner dffb und liefert mit Der Samurai seinen Abschlussfilm ab. Einen Trailer gibt es noch nicht zu sehen, erste Eindrücke zeigte 2012 ein Crowdfunding-Video, das half, den Film zu weiten Teil zu finanzieren, da er sich Berichten zufolge inkompatibel zu Stil, Inhalt und Atmosphäre zeigte, die im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk bevorzugt werden. Produzentin ist Anna de Paoli, die bereits das Dark Drama Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln (2011) von Linus de Paoli produzierte und dort auch Co-Autorin des Drehbuchs war. Die Hauptrolle des namenlosen Killer spielt Pit Bukowski, der Genreerfahrungen im letztjährigen Mysterythriller Lost Place (2013) von Thorsten Klein und Produzent Alex Weimer aus der Bewegung um den Neuen Deutschen Genrefilm sammeln konnte und auch im Ensemble des kommenden Found-Footage-Horrorfilms Tape_13 (2014) mitspielt.

    Ob Der Samurai die Erwartungen eines Genrepublikums erfüllen kann oder eher wie viele als “Thriller” titulierte deutsche Produktionen (zuletzt zum Beispiel Dito Tsintsadzes Invasion) in langatmigen persönlichen Dramastudien verhaftet bleibt, muss abgewartet werden. Die Messlatte hebt das Team jedenfalls selbst sehr mutig hoch, wenn es auf der englischsprachigen Projektseite von einer “wave of destruction, descending on the quiet, unsuspecting town like a supernova of irrational violence” spricht. Weiter heißt es zum Finale: “As the film peaks to it’s zenith, blood erupts in orgasmic geysers, heads tumble over asphalt and the village square is set ablaze by an all-consuming fire. The audience will find themselves shocked and exhilarated in equal measure by the small-scale apocalypse the Samurai has set forth in front and behind both Jakob’s and the audience’s eyes.”

    Dazu bedauern die Filmemacher offen, dass der deutsche Film zwar eine lange Tradition an düsterem und psychologischem Horror besitze, diese Tradition jedoch heutzutage kaum noch wertgeschöpft werde. Kleinert und Co. wollen sich deshalb bewusst von dem stummen, in Selbstwichtigkeit erstarrtem Pseudorealismus distanzieren, der zur dominierendenAusdrucksform des zeitgenössischen deutschen Kinos geworden sei. Dem wollen sie ein “adrenaline rush adventure that encounters the bizarre and the fantastically absurd” entgegensetzen. Die “Liebe zum Genre”, die die Berlinale-Programmleitung Till Kleinert lobend attestiert, hat aber offenbar auch seine Grenzen: Der Samurai feiert seine Weltpremiere in der Perspektive als “Midnight Movie”. Damit will die Berlinale “an die gute alte Tradition von Independent-Filmen anknüpfen, die in der Spätvorstellung der Kinos zu Kultfilmen wurden.” Welche Tradition das im deutschen Kino sein soll, ist nicht ganz klar. Man kann das jedenfalls für einen angemessenen Ort für Genrekino halten, man könnte sich aber auch fragen, warum solche Filme nicht auch in der “Prime Time” der Berlinale laufen.

    blog_Berlinale2014_Tape13

    Found-Footage-Horror in der Eifel

    Der zweite, erst gestern bekanntgegebene deutsche Genrefilm, der ebenfalls als “Midnight Movie” in der Perspektive Deutsches Kino seine Weltpremiere feiern wird, ist der Found-Footage-Horrorfilm Tape_13 (Teaser-Trailer) von Neuregisseur Axel Stein. Diesen kennt man bislang vor allem als erst dickeren, jetzt strammeren Komödianten im Mainstream-Kino und -TV, dessen Genreerfahrungen mit Auftritten wie in ProSiebens vergurgter Horrorpersiflage H3 – Halloween Horror Hostel (2008) oder Til Schweigers gewolltem Actionmelodram Schutzengel (2012) überschaubar bleiben, der in diesem Monat aber in der derben Geiselkomödie Nicht mein Tag (2014) von Peter Thorwarth (Bang Boom Bang) die Hauptrolle neben Moritz Bleibtreu spielt.

    Tape_13 erzählt die Geschichte von der Schwedin Ann und ihrem lettischen Verlobten Gero, die während einer Europareise mit ihrem Auto irgendwo in der Eifel liegenbleiben und auf eine Gruppe Jugendlicher treffen, die in einem Ferienhaus im Wald feiern. Schnell jedoch wird es ungemütlich in der einsamen Hütte: Anns Sachen werden durchsucht, lokale Geistergeschichten machen die Runde, eine Gestalt irrt durch den Wald – und schließlich verschwindet auch noch eines der Mädchen spurlos. Von Seiten der Berlinale wurde der Film als “eine gelungene Hommage an Blair Witch Project” bezeichnet – jenem Film, der 1999 das Genre des Found-Footage-Horrors im Alleingang zündete.

    Bei der Low-Budget-Produktion von Rat Pack Entertainment fungierte Benjamin Munz als Produzent. Dieser ist Mitglied des Neuen Deutschen Genrefilms und Produzent und Co-Autor der noch immer unveröffentlichten Zombie-Miniserie Viva Berlin! (2011), die möglichst bald einen Release erhalten soll und zu der es immerhin Planungen für ein Kinoremake gibt. Derzeit ist Munz Produzent der kommenden Horrorkomödie Stung (Regie: Benni Diez), die mit internationalem Cast Ende letzten Jahres im Umland von Berlin abgedreht wurde und voraussichtlich dieses Jahr in die Kinos kommt.

    Das Gegenprogramm: Genrenale und Drop-Out-Cinema

    Auf der letztjährigen Genrenale, dem von Kryztof Zlatnik (Land of Giants) und Paul Andexel (You Missed Sonja) organisierten Festival des Neuen Deutschen Genrefilms, war Benjamin Munz Moderator. Die Genrenale fand bewusst zum Zeitpunkt der Berlinale statt, um auch organisatorisch ein Ausrufezeichen für Genrefilme aus Deutschland und dem deutschen Kulturraum zu setzen.

    Dass bereits ein Jahr später in der Perspektive Deutsches Kino zwei deutsche Genrefilme als “Midnight Movie” laufen, mag durchaus mehr als ein Zufall sein. In der Branche werden die Aktivitäten des Neuen Deutschen Genrefilms durchaus wahrgenommen. So kann man die Aufnahme eines deutschen Psychothrillers und einer deutschen Found-Footage-Horrorproduktion entweder als wohlwollendes Zeichen der Ermutigung des “großen” Festivals sehen, den deutschen Genrefilm zu unterstützen – oder als hastiges Zugeständnis an die neue Bewegung, sich in Sachen deutsches Genre keine Ignoranz vorwerfen lassen zu müssen.

    Die Genrenale 2014 ist jedenfalls derzeit in voller Planung und wird wieder parallel zur Berlinale stattfinden. Mehr als 80 Filme verschiedener Genres (vor allem Kurzfilme, aber auch einige Langfilme) wurden eingereicht, aus der die Festivalmacher ein umfangreiches Programm stricken, um einen aktuellen Stand zum deutschen Genrefilm zugeben. Ab nächster Woche soll es genauere Infos zum Programm und zum Festivalablauf geben.

    Damit aber noch nicht genug: Drop Out Cinema bringt am Tag des Berlinale-Beginns am 6. Februar zwei besonders heiße Eisen in die deutschen Kinos: In dem österreichischen Horrorfilm Blutgletscher (2013, Trailer) von Marvin Kren, der bereits mit seinem Zombiehorror Rammbock (2010) überzeugen konnte, entdecken Forscher in den Alpen eine unbekannte Mikrobe, die bald die Alpenfauna zu einer gefährlichen Begegnung mutieren lässt. Außerdem läuft die österreichisch-deutsche Koproduktion Zero Killed (2011, Trailer) an. Der dokumentarische Film stellt die Frage, ob in jedem von uns ein Mörder stecken kann. Über mehrere Jahre ließ Regisseur Michal Kosakowski (German Angst) Menschen ihre ganz persönlichen Mordphantasien szenisch umsetzen. Jahre später konfrontierte er diese noch einmal mit ihren eigenen Filmen und befragte sie zu Themen wie Krieg, Folter und Selbstjustiz.

    blog_Berlinale2014_DasCabinetDesDrCaligari

    Restauration eines Genre-Klassikers

    Im Rahmen der Berlinale Classics wird findet in diesem Jahr noch ein besonderes Event für Freund deutscher Genrefilme statt: die vollständige 4K-Restauration des Horror-Urklassikers Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) von Robert Wiene gezeugt. Dazu wurden erstmals alle verfügbaren Materialien des Films zusammengetragen – das im Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin erhaltene Kameranegativ sowie mehrere zeitgenössische Verleihkopien aus internationalen Filmarchiven. Der Film handelt von einem sinistren Jahrmarktsimpressario, der nachts einen Schlafwandler durch die Gassen der Stadt schickt, um Morde zu begehen.

    Das Cabinet des Dr. Caligari gilt als der erste wegweisende und international äußert erfolgreiche expressionistische Stummfilm. Er leitete die Zeit der ‘Weimarer Phantastik’ ein und war damit entscheidender Wegbereiter des Phantastischen Films im Allgemeinen und des Horrorfilms im Speziellen ein. Der “German Expressionism” sollte wegen seiner außergewöhnlichen Bildgestaltung und düsteren Atmosphäre, die den Wahnsinn und das Chaos in der Gesellschaft direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs einfingen, mit Regisseuren wie Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau zu Weltruhm gelangen und inspirierte über viele Jahrzehnte – nicht zuletzt durch viele deutsche Emigranten nach 1933 – vor allem das amerikanische Kino, insbesondere den Film Noir in den 40er und 50er Jahren. Von der Kreativität und Wirkmacht solcher Filme wie Caligari hat sich der heutige deutsche Genrefilm völlig entfremdet, es gelang kaum noch, an diese einstige Tradition anzuknüpfen.

    Volles Genre-Programm im Februar

    Am 7. Februar wird im Berliner Babylon-Kino ein Double Feature von Blutgletscher und Zero Killed präsentiert, in Anwesenheit der beiden Regisseure des Neuen Deutschen Genrefilms: Blutgletscher läuft um 18 Uhr, Zero Killed folgt um 21:30 Uhr. Ende Januar wird das Programm der Berlinale online gehen, in dem die Spieltermine für Der Samurai und Tape_13 bekannt gegeben werden. Nächste Woche soll es bereits genauere Infos zum Programm und Festival-Ablauf der Genrenale geben, die voraussichtlich in der zweiten Berlinale-Woche vom 10. bis 16. Feburar stattfinden wird. Wer sich entsprechend einstimmen will, kann für den 9. Februar schonmal das Screening von Das Cabinet des Dr. Caligari vormerken (oder wartet auf die Ausstrahlung auf Arte am 12. Februar).

    Der kommende Monat wird in jedem Fall spannend und ereignisreich für den deutschen Genrefilm.


    mw